Der menschliche Makel
beschloss, zur Staatspolizei zu gehen. Dass ich nicht noch am selben Tag, am selben Morgen, sogar noch vor der Beerdigung dorthin ging, lag zum Teil daran, dass ich, als ich meinen Wagen gegenüber der Grünanlage in der Stadt parkte, durch das Fenster von Pauline's Place Faunias Vater sah, der dort frühstückte: Er saß neben der Frau, die am Tag zuvor auf dem Bergfriedhof seinen Rollstuhl geschoben hatte. Ich ging sogleich hinein, setzte mich an den Nachbartisch und gab eine Bestellung auf, und während ich tat, als läse ich die Madamaska Weekly Gazette, die jemand auf einem Stuhl hatte liegen lassen, belauschte ich ihre Unterhaltung, so gut ich konnte.
Sie sprachen über ein Tagebuch. Zu den Dingen, die Sally und Peg Faunias Vater übergeben hatten, gehörte auch ihr Tagebuch.
»Du solltest das nicht lesen, Harry. Du solltest das wirklich nicht tun.«
»Ich muss«, sagte er.
»Nein, du musst nicht«, sagte die Frau. »Glaub mir, du musst nicht.«
»Es kann nicht schlimmer sein als alles andere.«
»Du solltest es nicht lesen.«
Die meisten Menschen brüsten sich mit Leistungen, von denen sie nur träumen können; Faunia dagegen hatte gelogen, als sie gesagt hatte, sie habe es nie geschafft, sich eine Fertigkeit anzueignen, die so fundamental ist, dass fast jedes Schulkind auf der Welt sie nach zwei Jahren wenigstens einigermaßen erlernt hat.
Und das erfuhr ich, noch bevor ich meinen Saft getrunken hatte. Sie hatte die Analphabetin gespielt - es war etwas gewesen, von dem sie fand, dass ihre Situation es erforderte. Doch warum? Weil es eine Quelle der Macht war? Ihre einzige Quelle der Macht? Aber welchen Preis hatte sie dafür bezahlen müssen? Denk nach. Sie nimmt es auch noch auf sich, Analphabetin zu sein. Sie nimmt es freiwillig auf sich. Allerdings nicht, um sich zu einem kleinen Kind zu machen, um sich als abhängiges kleines Kind zu präsentieren, sondern im Gegenteil, um das barbarische Ich, das diese Welt erfordert, in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht weil sie Bildung als eine erstickende Form der Schicklichkeit zurückweist, sondern weil sie Bildung mit einem Wissen übertrumpft, das stärker und urwüchsiger ist. Sie hat nichts gegen das Lesen an sich - aber so zu tun, als sei sie dazu nicht imstande, erscheint ihr richtig. Es gibt den Dingen den gewissen Pfiff. Sie kann gar nicht genug von diesen Giften bekommen: von alldem, was man nicht sein soll, was man nicht zeigen und sagen und denken soll, was man aber trotzdem ist und zeigt und sagt und denkt, ob es einem nun gefällt oder nicht.
»Ich kann es nicht verbrennen«, sagte Faunias Vater. »Es hat ihr gehört. Ich kann es nicht einfach auf den Müll werfen.«
»Ich aber«, sagte die Frau.
»Es ist nicht recht.«
»Du bist dein Leben lang durch dieses Minenfeld gegangen. Es reicht.«
»Es ist alles, was mir von ihr geblieben ist.«
»Der Revolver. Das ist dir von ihr geblieben. Die Munition, Harry. Das hat sie dir hinterlassen.«
»Wie sie gelebt hat«, sagte er, und es klang, als kämpfte er plötzlich mit den Tränen.
»Sie hat so gelebt, wie sie gestorben ist. Deshalb ist sie gestorben.«
»Du musst mir das Tagebuch geben«, sagte er.
»Nein. Es ist schlimm genug, dass wir überhaupt hierhergekommen sind.«
»Wenn du es vernichtest, wenn du es vernichtest, weiß ich nicht, was ich tun werde.«
»Ich tue nur, was am besten für dich ist.«
»Was steht darin?« »Ich kann es unmöglich wiederholen.«
»O Gott«, sagte er.
»Iss. Du musst etwas essen. Die Pfannkuchen sehen gut aus.«
»Meine Tochter«, sagte er.
»Du hast getan, was du konntest.«
»Ich hätte sie zu mir nehmen sollen, als sie sechs war.«
»Du wusstest nicht, was kommen würde. Wie konntest du wissen, was kommen würde?«
»Ich hätte sie nie bei dieser Frau lassen dürfen.«
»Und wir hätten nie hierherkommen dürfen«, sagte seine Begleiterin. »Jetzt fehlt nur noch, dass du hier krank wirst. Dann wäre wirklich alles perfekt.«
»Ich will die Asche haben.«
»Sie hätten sie beerdigen sollen. In diesem Grab. Zusammen mit ihr. Ich weiß nicht, warum sie das nicht getan haben.«
»Ich will die Asche, Syl. Es waren meine Enkelkinder. Das ist alles, was mir geblieben ist.«
»Ich habe mich darum gekümmert.«
»Nein!«
»Du brauchst diese Asche nicht. Du hast genug durchgemacht. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Die Asche kommt jedenfalls nicht mit ins Flugzeug.«
»Was hast du getan? «
»Ich habe mich darum gekümmert«,
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