Der menschliche Makel
sagte sie. »Ich war pietätvoll. Aber sie ist weg.«
»O mein Gott.«
»Es ist vorbei«, sagte sie. »Es ist alles vorbei. Du hast deine Pflicht getan. Du hast mehr als deine Pflicht getan. Du brauchst nicht noch mehr zu tun. Und jetzt musst du etwas essen. Ich habe unsere Sachen gepackt und das Zimmer bezahlt. Jetzt müssen wir dich nur noch wieder nach Hause bringen.«
»Ach, Sylvia, du bist die Beste, du bist die Allerbeste.«
»Ich will nicht, dass dir jemand wehtut. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand wehtut.«
»Du bist die Beste.«
»Versuch jetzt, etwas zu essen. Die sehen wirklich gut aus.«
»Willst du auch etwas?«
»Nein«, sagte sie. »Ich will, dass du etwas isst.«
»Ich kann das nicht alles essen.«
»Nimm ein bisschen Sirup. Hier, ich gieße dir etwas darüber.«
Ich wartete draußen, in der Grünanlage, auf sie, und als sich die Restauranttür öffnete und ich den Rollstuhl sah, überquerte ich die Straße. Während die Frau den Rollstuhl schob, ging ich neben ihnen her und stellte mich vor. »Ich lebe hier. Ich kannte Ihre Tochter. Zwar nur flüchtig, aber ich habe sie mehrmals getroffen. Ich war gestern auf der Beerdigung. Ich habe Sie dort gesehen. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.«
Er war ein massiger Mann von großer Statur, viel größer, als er mir auf der Beerdigung erschienen war, wo er zusammengesunken im Rollstuhl gesessen hatte. Er war wahrscheinlich über einen Meter achtzig groß, doch der Ausdruck auf seinem strengen, starkknochigen Gesicht (es war Faunias ausdrucksloses Gesicht, genau ihr Gesicht: die schmalen Lippen, das ausgeprägte Kinn, die scharf geschnittene Adlernase, dieselben blauen, tief liegenden Augen und darüber, wie ein Rahmen für die blassen Wimpern, jene Wölbung, jene Fülle, die für mich damals, auf der Milchfarm, das einzige Exotische an ihr, der einzige Hinweis auf Charme in ihrem Gesicht gewesen war), der Ausdruck war der eines Mannes, der nicht nur zu einer Gefangenschaft im Rollstuhl verurteilt, sondern für den Rest seiner Tage zu einer noch größeren Qual verdammt war. So groß er auch war oder einst gewesen war - außer seiner Angst war nichts mehr von ihm übrig. Ich sah diese Angst im Hintergrund seines Blickes, als er aufsah, um mir zu danken. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er.
Er war wohl etwa in meinem Alter, doch etwas in seiner Sprechweise verriet eine privilegierte Kindheit in Neuengland und verwies auf eine Zeit, lange bevor er oder ich geboren worden waren. Mir war das bereits zuvor, im Restaurant, aufgefallen: Er war schon allein durch seine Sprache, durch die Ausdrucksweise der wohlhabenden, an England orientierten Schicht, an die Konventionen des Anstands eines vollkommen anderen Amerika gebunden.
»Sind Sie Faunias Stiefmutter?« Diese Frage schien mir so gut wie jede andere geeignet, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen - und sie vielleicht dazu zu bringen, langsamer zu gehen. Ich nahm an, dass sie auf dem Rückweg zum College Arms waren, das in einer Nebenstraße nicht weit von der Grünanlage stand.
»Das ist Sylvia«, sagte er.
»Könnten Sie bitte stehen bleiben«, sagte ich zu Sylvia, »damit ich mit ihm sprechen kann?«
»Wir wollen unser Flugzeug nicht verpassen«, erwiderte sie.
Da sie offenbar entschlossen war, ihn so schnell wie möglich von meiner Anwesenheit zu befreien, sagte ich, noch immer mit dem Rollstuhl Schritt haltend: »Coleman Silk war mein Freund. Er ist nicht durch Unachtsamkeit von der Straße abgekommen. Das kann nicht sein. Nicht so. Er wurde abgedrängt. Ich weiß, wer für den Tod Ihrer Tochter verantwortlich ist. Es war nicht Coleman Silk.«
»Bleib stehen, Sylvia. Bleib für einen Augenblick stehen.«
»Nein«, sagte sie. »Das ist verrückt. Es reicht.«
»Es war ihr Exmann«, sagte ich zu ihm. »Es war Farley.«
»Sir!« Sie war nun doch stehen geblieben, doch mit der freien Hand hatte sie mein Revers gepackt. Sie war klein und zierlich, eine junge Filipina mit einem kleinen, unversöhnlichen, blassbraunen Gesicht, und an der dunklen Entschlossenheit ihrer furchtlosen Augen erkannte ich, dass die Unordnung des menschlichen Lebens nicht einmal in die Nähe von etwas kommen durfte, was zu beschützen sie als ihre Pflicht betrachtete.
»Können wir nicht einen Augenblick stehen bleiben?«, fragte ich sie. »Können wir nicht zur Grünanlage dort drüben gehen und uns setzen und reden?«
»Diesem Mann geht es nicht gut. Sie belasten einen Mann, der
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