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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Kilometer vom Haus des verstorbenen Coleman Silk entfernt, der, wie ich Ihnen sagte, mein Freund war. Durch Coleman bin ich mehrere Male mit Ihrer Tochter zusammengetroffen. Manchmal hat er von ihr gesprochen. Die beiden hatten eine leidenschaftliche Affäre, die jedoch ohne jede Grausamkeit war. Er spielte bei ihr hauptsächlich die Rolle des Liebhabers, wusste aber auch ein Freund und ein Lehrer zu sein. Wenn sie ihn um liebevolle Zuwendung gebeten hat, so kann ich mir nicht vorstellen, dass er ihr diese jemals vorenthalten haben könnte. Was immer sie von seinem Wesen aufgenommen hat, kann ihr unmöglich, unter keinen Umständen, Schaden zugefügt haben.
    Ich weiß nicht, wie viel Sie von dem bösartigen Klatsch, der in Athena über Coleman und Faunia und ihren Unfall im Umlauf ist, gehört haben. Ich hoffe, Sie haben nichts davon gehört. Es ist jedoch ein Verbrechen aufzuklären, neben dem dieses dumme Geschwätz zu einem Nichts verblasst. Zwei Menschen sind ermordet worden. Ich weiß, wer sie ermordet hat. Ich habe den Mord nicht beobachtet, aber ich weiß, dass er stattgefunden hat. Ich bin mir absolut sicher. Um von der Polizei oder einem Anwalt ernst genommen zu werden, muss ich jedoch Beweise vorlegen. Wenn Sie irgendwelche Schriftstücke besitzen, die ein Licht auf Faunias seelische Verfassung in den vergangenen Monaten oder sogar während ihrer Ehe mit Farley werfen, dann bitte ich Sie, sie nicht zu vernichten. Ich denke dabei sowohl an Briefe, die Sie vielleicht im Lauf der Jahre von ihr erhalten haben, als auch an Habseligkeiten aus Faunias Zimmer, die Ihnen von Sally und Peg übergeben worden sind. Meine Adresse und Telefonnummer lauten -
    So weit kam ich. Ich wollte warten, bis sie abgereist waren, und dann im College Arms anrufen, um vom Empfangschef unter irgendeinem Vorwand den Namen und die Adresse von Faunias Vater zu erfahren, damit ich ihm diesen Brief per Express schicken konnte. Falls ich die Adresse nicht auf diesem Weg herausfinden konnte, wollte ich zu Sally und Peg gehen. In Wirklichkeit jedoch würde ich weder das eine noch das andere tun. Was immer sich in Faunias Zimmer befunden hatte, war inzwischen von Sylvia weggeworfen oder vernichtet worden - ebenso wie mein Brief vernichtet werden würde, sobald er seinen Bestimmungsort erreicht hatte. Die kleine Frau, deren einziger Lebenszweck es war, die Vergangenheit daran zu hindern, diesen Mann weiter zu quälen, würde niemals zulassen, dass in sein Heim etwas eindrang, was sie nicht zugelassen hatte, als sie mir von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte. Außerdem hatte sie einen Kurs eingeschlagen, gegen den ich nichts vorbringen konnte. Wenn das Leiden in dieser Familie weitergereicht wurde wie eine Krankheit, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Schild aufzuhängen, wie man es früher, als ich noch ein Kind war, an den Türen derer anbrachte, die eine ansteckende Krankheit hatten, ein Schild, auf dem QUARANTÄNE stand oder das den Augen der Gesunden nichts weiter als ein großes schwarzes Q zeigte. Die kleine Sylvia war dieses drohende Q, und an ihr führte kein Weg vorbei.
    Ich zerriss, was ich geschrieben hatte, und ging quer durch die Stadt zu Colemans Beerdigung.
    Die Aussegnungsfeier für Coleman war von seinen Kindern organisiert worden. Alle vier standen am Eingang der Rishanger Chapel, um die eintreffenden Trauergäste zu begrüßen. Es war eine Familienentscheidung gewesen, die Feier in der Rishanger Chapel, der Kirche des Colleges, zu veranstalten, und das war das Herzstück eines, wie mir aufging, sorgfältig geplanten Coups, eines Versuchs, die selbst gewählte Verbannung ihres Vaters rückgängig zu machen und ihn, wenn schon nicht im Leben, so doch im Tod, wieder in die Gemeinschaft einzugliedern, in der er seine bemerkenswerte Karriere gemacht hatte.
    Als ich mich vorstellte, wurde ich sogleich von Lisa, Colemans Tochter, beiseite genommen, die mich umarmte und unter Tränen flüsterte: »Sie waren sein Freund. Sie waren der einzige Freund, den er noch hatte. Wahrscheinlich waren Sie der letzte, der ihn lebend gesehen hat.«
    »Wir waren eine Zeit lang befreundet«, sagte ich, erklärte aber nicht, dass ich ihn zuletzt vor mehreren Monaten gesehen hatte, an jenem Samstag im August in Tanglewood, und dass er unsere kurze Freundschaft damals bereits bewusst hatte einschlafen lassen.
    »Wir haben ihn verloren«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    »Wir haben ihn verloren«, wiederholte sie, und dann weinte sie,

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