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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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ohne zu versuchen, etwas zu sagen.
    Nach einer Weile sagte ich: »Ich habe das Zusammensein mit ihm genossen, und ich habe ihn bewundert. Ich wollte, ich hätte ihn länger gekannt.«
    »Warum ist das nur passiert?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »War er verwirrt? War er verrückt?«
    »Nein. Absolut nicht.«
    »Wie konnte das alles dann passieren?«
    Als ich keine Antwort gab (und wie hätte ich eine Antwort geben können, es sei denn, indem ich begann, dieses Buch zu schreiben?), ließ sie die Arme langsam sinken, und während wir uns noch einige Sekunden gegenüberstanden, sah ich, wie groß die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war - ebenso groß wie Faunias Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Sie hatte dieselben markanten, puppenartigen Gesichtszüge, dieselben grünen Augen, dieselbe bräunliche Hautfarbe, ja sogar dieselbe - wenn auch weniger breitschultrige - zierlich athletische Statur wie Coleman. Das einzige sichtbare genetische Vermächtnis ihrer Mutter Iris schien Lisas auffallender Schopf dichtgelockter dunkler Haare zu sein. Auf allen Fotos von Iris - Fotos in Familienalben, die Coleman mir gezeigt hatte - schien die Bedeutung ihrer Person, wenn nicht ihr ganzes Wesen, so sehr in dieser selbstbewussten, theatralischen Haarfülle konzentriert, dass es mir so vorkam, als spielten ihre Gesichtszüge kaum eine Rolle. Bei Lisa hatte man das Gefühl, dass ihr Haar eher im Gegensatz zu ihrem Wesen stand und nicht - wie bei ihrer Mutter - eine Manifestation dieses Wesens war.
    Unsere direkte Begegnung dauerte nur wenige Augenblicke, und doch hatte ich den starken Eindruck, dass Lisa von nun an jeden Tag ihres Lebens an die jetzt unterbrochene Verbindung zwischen ihr und ihrem Vater denken würde. Auf die eine oder andere Art würde die Vorstellung von ihm mit allem, was sie denken oder tun oder unterlassen würde, verbunden sein. Die Folgen davon, dass sie ihn als seine geliebte Tochter so unumschränkt geliebt und sich ihm kurz vor seinem Tod entfremdet hatte, würden diese Frau niemals loslassen.
    Die drei Männer - Lisas Zwillingsbruder Mark und die beiden älteren Söhne Jeffrey und Michael - begrüßten mich nicht so emotional. Bei Mark bemerkte ich nichts von der wütenden Intensität des gekränkten Sohnes, und als seine sachliche Gefasstheit etwa eine Stunde später, am offenen Grab, von ihm abfiel, geschah das mit der Vehemenz eines Untröstlichen. Jeff und Michael waren offensichtlich die belastbareren Silk-Kinder, und bei ihnen zeigte sich deutlich das Erbe ihrer robusten Mutter, wenn auch nicht in ihren Haaren (beide Männer waren mittlerweile kahl), so doch in ihrer Körpergröße, dem festen Kern ihres Selbstvertrauens und ihrer offenherzigen Autorität. Dies waren keine Menschen, die sich irgendwie durchmogelten - das wurde bereits bei der Begrüßung und den wenigen Worten, die sie sagten, deutlich. Wenn man sich Jeff und Michael gegenübersah, hatte man, besonders wenn sie nebeneinanderstanden, seine Meister gefunden. Bevor ich Coleman kennenlernte - in seiner großen Zeit, als er noch nicht in dem immer enger werdenden Gefängnis seiner Wut der Katastrophe entgegentrudelte, als die Leistungen, die ihn aus der Masse heraushoben, die ihn ausmachten, noch nicht aus seinem Leben verschwunden waren -, hätte man sicher auch in ihm seinen Meister gefunden, was vermutlich erklärt, warum man allgemein so rasch bereit war, mit dem Finger auf den Dekan zu zeigen, als er beschuldigt wurde, öffentlich eine rassistische Bemerkung gemacht zu haben.
    Trotz aller Gerüchte, die man sich in der Stadt erzählte, überstieg die Zahl der Trauergäste bei Weitem meine Erwartungen; jedenfalls überstieg sie das, was Coleman erwartet hätte. Die ersten sechs oder sieben Bankreihen waren bereits gefüllt, und immer noch strömten Menschen herein, als ich einen freien Platz in der Mitte, gegenüber dem Altar, fand und mich neben einen Mann setzte, in dem ich - weil ich ihn am Vortag zum ersten Mal gesehen hatte - Smoky Hollenbeck erkannte. Begriff er, wie nahe er vielleicht vor nur einem Jahr seiner eigenen Trauerfeier hier in der Rishanger Chapel gewesen war? Möglicherweise nahm er an der heutigen Feier mehr aus Dankbarkeit für sein Glück als aus Hochachtung vor dem Mann teil, der sein erotischer Nachfolger gewesen war.
    Auf Smokys anderer Seite saß eine Frau, die, wie ich annahm, seine Ehefrau war, eine hübsche, etwa vierzigjährige Blondine. Wenn ich mich recht erinnerte, war sie eine Kommilitonin gewesen, die Smoky in

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