Der menschliche Makel
dachte, ich könnte früher oder später - und zwar, wie ich hoffte, eher früher als später - einen Dialog zwischen Coleman und seinen Anklägern in Gang bringen, der zur Formulierung einer Erklärung führen würde, damit das dem Konflikt zugrunde liegende Missverständnis aufgelöst und dieser bedauerliche Zwischenfall zu einem gerechten Ende gebracht werden könnte.
Doch ich irrte mich. Ich hätte zu meinem Freund niemals sagen dürfen: ›Ich kann mich in dieser Sache nicht auf Ihre Seite stellen.‹ Ich hätte sagen sollen: ›Ich muss mich in dieser Sache auf Ihre Seite stellen.‹ Ich hätte mich seinen Gegnern nicht heimlich und in unangebrachtem Optimismus, von innerhalb des Kollegiums, entgegenstellen sollen, sondern geradeheraus und für alle sichtbar, so sichtbar, dass er aus dieser Unterstützung Mut hätte schöpfen können, anstatt das erdrückende Gefühl der Einsamkeit ertragen zu müssen, aus dem jene schwärende Wunde wurde, die zu einer Entfremdung von seinen Kollegen, seinem Rückzug vom College und schließlich zu der selbstzerstörerischen Isolation führte, die - davon bin ich, so schrecklich dieser Gedanke für mich auch ist, überzeugt - gar nicht so indirekt verantwortlich ist für den tragischen, sinnlosen, unnötigen Tod, der ihn vor wenigen Tagen in seinem Wagen ereilt hat. Ich hätte meine Stimme erheben und sagen sollen, was ich jetzt sagen will, in Anwesenheit seiner ehemaligen Kollegen, Mitarbeiter und besonders seiner Kinder Jeff und Michael, die aus Kalifornien angereist sind, und Mark und Lisa, die aus New York angereist sind - ich hätte sagen sollen, was ich als ältester afroamerikanischer Dozent des Athena College jetzt sagen will:
In all den Jahren, in denen er für das Athena College gearbeitet hat, ist Coleman Silk im Umgang mit seinen Studenten niemals von den Regeln des Anstands abgewichen. Niemals.
Diese angebliche Verfehlung hat niemals stattgefunden. Niemals.
Was er über sich hat ergehen lassen müssen - die Anschuldigungen, die Anhörungen, die Untersuchungen -, beschädigt bis auf den heutigen Tag, und am heutigen Tag mehr denn je, die Integrität des Colleges. Hier, in jenem Neuengland, das historisch am engsten mit dem Widerstand amerikanischer Individualisten gegen die Zwänge einer bevormundenden Gesellschaft verbunden ist - man denke an Hawthorne, Melville und Thoreau -, wurde ein amerikanischer Individualist, der nicht davon überzeugt war, dass Regeln die bedeutsamsten Dinge im Leben sind, ein amerikanischer Individualist, der sich weigerte, die Orthodoxien des Hergebrachten und der überkommenen Wahrheiten unhinterfragt zu lassen, ein amerikanischer Individualist, der nicht immer in Übereinstimmung mit den von der Mehrheit aufgestellten Normen der Schicklichkeit und des Geschmacks lebte - hier wurde ein amerikanischer Individualist par excellence wieder einmal von Freunden und Nachbarn so bösartig verleumdet, dass er ihnen, durch ihre moralische Dummheit seiner moralischen Integrität beraubt, bis zu seinem Tod entfremdet war. Ja, wir, die moralisch dumme, bevormundende Gesellschaft, haben uns erniedrigt, indem wir Coleman Silks guten Namen so schändlich in den Schmutz gezogen haben. Ich meine damit insbesondere Menschen wie mich, die wir infolge unseres engen Kontaktes zu Coleman um die Größe seiner Verpflichtung gegenüber Athena und die Reinheit seiner Hingabe an den Beruf des Lehrers wussten und ihn, aus welcher Verblendung auch immer, verraten haben. Ich sage es noch einmal: Wir haben ihn verraten. Wir haben Coleman verraten, und wir haben Iris verraten.
Iris' Tod, der Tod von Iris Silk, die mitten in ...«
Zwei Plätze weiter zu meiner Linken weinte Smoky Hollenbecks Frau, ebenso verschiedene andere Frauen in meiner Nähe.
Smoky selbst saß vornübergebeugt, die Stirn leicht auf die Hände gestützt, die er auf entfernt gottesdienstliche Weise auf der Rückenlehne der Bank vor uns gefaltet hatte. Ich nahm an, er wollte mir oder seiner Frau oder denjenigen, die ihn vielleicht beobachteten, weismachen, es sei ihm geradezu unerträglich, an das Unrecht zu denken, das Coleman Silk erlitten hatte. Ich nahm an, er wollte den Eindruck erwecken, als sei er von Mitgefühl überwältigt, doch da ich wusste, welche dionysischen Unterströmungen er, der Vorzeigefamilienvater, verbarg, fiel es mir schwer, zu diesem Schluss zu kommen.
Aber abgesehen von Smoky erschien mir die Aufmerksamkeit, die Konzentration, die Schärfe der Konzentration, mit der
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