Der menschliche Makel
den Siebzigern geheiratet hatte und inzwischen die Mutter von fünf Kindern war. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass die Hollenbecks, abgesehen von Colemans Kindern, die jüngsten Trauergäste in der Kirche waren. Die anderen waren ältere Dozenten und Angestellte des Colleges, die Coleman vor Iris' Tod und seinem Rückzug fast vierzig Jahre lang gekannt hatte. Was hätte er wohl über diese Veteranen gedacht, wenn er sie hätte sehen können, wie sie in der Rishanger Chapel vor seinem Sarg saßen? Wahrscheinlich so etwas wie: »Was für eine wunderbare Gelegenheit für Eigenlob. Wie tugendhaft sie sich vorkommen müssen, weil sie mir meine Verachtung für sie nicht übel nehmen.«
Während ich dort inmitten all seiner Kollegen saß, fand ich den Gedanken eigenartig, dass so überaus gebildete und professionell höfliche Menschen derart bereitwillig auf den altehrwürdigen menschlichen Traum von einer Situation, in der ein Mann das Böse schlechthin verkörpern kann, hereingefallen waren. Doch dieses Bedürfnis existiert, und es ist unsterblich und sehr tief.
Als die Tür geschlossen wurde und die Silks ihre Plätze in der ersten Reihe einnahmen, sah ich, dass die Kirche beinahe zu zwei dritteln gefüllt war: Dreihundert Menschen, vielleicht auch mehr, warteten darauf, dass dieses uralte und natürliche menschliche Ritual ihr Entsetzen über das Ende des Lebens milderte. Ich sah auch, dass Mark Silk als einziger von Colemans Söhnen eine Kippa trug.
Wie wohl die meisten anderen erwartete ich, dass eines von Colemans Kindern an das Rednerpult treten und das Wort ergreifen würde, doch an diesem Morgen war nur ein einziger Redner vorgesehen, und zwar Herb Keble, der Politikwissenschaftler, den Dekan Silk als ersten schwarzen Professor nach Athena geholt hatte. Offenbar war die Wahl der Familie aus demselben Grund auf Keble gefallen, aus dem sie die Rishanger Chapel als Ort für die Trauerfeier gewählt hatte: um ihren Vater zu rehabilitieren, um die Uhr in Athena zurückzudrehen und Colemans Ruf und sein früheres Ansehen wiederherzustellen. Als ich daran dachte, mit welchem Nachdruck sowohl Jeff als auch Michael mir die Hand geschüttelt, mich mit Namen angesprochen und gesagt hatten: »Danke, dass Sie gekommen sind - es bedeutet unserer Familie sehr viel, dass Sie hier sind«, und als ich mir vorstellte, dass sie jedem der Trauergäste, unter denen viele waren, die sie seit ihrer Kindheit kannten, etwas Ähnliches gesagt hatten, dachte ich: Und sie werden erst aufgeben, wenn das Verwaltungsgebäude in Coleman Silk Hall umbenannt worden ist.
Es war vermutlich kein Zufall, dass die Kirche beinahe bis auf den letzten Platz gefüllt war. Wahrscheinlich hatten sie seit dem Unfall herumtelefoniert und Trauergäste zusammengetrommelt, ähnlich wie man damals, als der alte Daley noch Bürgermeister von Chicago gewesen war, die Wähler an die Urnen getrieben hatte. Und wie mussten sie Keble, den Coleman besonders verabscheut hatte, bearbeitet haben, um ihn dazu zu bringen, sich freiwillig als Athenas Sündenbock anzubieten. Je länger ich daran dachte, wie diese beiden Söhne Silks den schwarzen Professor unter Druck gesetzt hatten, wie sie ihn eingeschüchtert, angeschrien und angeprangert, ja vielleicht sogar offen bedroht hatten, weil ihr Vater zwei Jahre zuvor von ihm verraten worden war, desto mehr mochte ich sie - und desto mehr mochte ich Coleman, denn er hatte zwei große, entschlossene, intelligente Männer gezeugt, die keine Hemmungen hatten, zu tun, was zu tun war, um seine Reputation wiederherzustellen. Diese beiden würden helfen, Les Farley für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen.
Das dachte ich jedenfalls bis zum nächsten Nachmittag, kurz bevor sie die Stadt wieder verließen, als sie mich - nicht weniger barsch überzeugend als in Kebles Fall, wie ich annahm - wissen ließen, ich solle die Sache auf sich beruhen lassen und Les Farley, die Umstände, die zu dem Unfall geführt hatten, sowie mein Vorhaben, die Polizei zu weiteren Ermittlungen zu drängen, vergessen. Sie machten überdeutlich, wie grenzenlos ihre Missbilligung sein würde, sollte die Affäre ihres Vaters mit Faunia Farley in den Mittelpunkt eines durch mein Insistieren herbeigeführten Gerichtsverfahrens gerückt werden. Sie wollten den Namen Faunia Farley nie mehr hören, am allerwenigsten im Zusammenhang mit einem aufsehenerregenden Verfahren, über das die örtliche Presse reißerisch berichten würde, sodass die
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