Der menschliche Makel
die Anwesenden auf jedes Wort lauschten, das Herb Keble sagte, echt genug, um mir vorstellen zu können, dass viele der Zuhörer Schwierigkeiten haben würden, das ungerechte Los, das Coleman zu ertragen gehabt hatte, nicht zu beklagen. Natürlich fragte ich mich, ob Kebles Erklärung, warum er sich in der Affäre um die »dunklen Gestalten« nicht auf Colemans Seite hatte stellen können, von ihm selbst stammte oder ob sie ihm von Silks Söhnen angeboten worden war, damit er tun konnte, was sie von ihm verlangten, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ich fragte mich, ob diese Erklärung eine korrekte Beschreibung der Motive war, die ihn dazu getrieben hatten, jene Worte zu sagen, die Coleman in meiner Gegenwart so oft und so verbittert wiederholt hatte: »Ich kann mich in dieser Sache nicht auf Ihre Seite stellen.«
Warum wollte ich diesem Mann nicht glauben? Weil ab einem gewissen Alter das Misstrauen so ausgeprägt ist, dass man niemandem mehr glauben will? Als er vor zwei Jahren geschwiegen und nichts unternommen hatte, um Coleman zu verteidigen, hatte er das gewiss aus demselben Grund getan, warum die Leute immer schweigen: weil es in ihrem Interesse liegt zu schweigen. Eigennutz ist kein Motiv, das im Dunkeln bleibt. Herb Keble war bloß einer, der - wenn auch auf eine offensive, ja interessante Weise - versuchte, einen Fehler auszubügeln, indem er die Schuld auf sich nahm, doch die Tatsache blieb, dass er nicht gehandelt hatte, als es darauf angekommen war, und so dachte ich in Colemans Namen: Scheiß drauf.
Als Keble vom Podium trat und, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte, Colemans Kindern die Hand schüttelte, verstärkte diese schlichte Geste nur die starken Gefühle, die seine Rede geweckt hatte. Was würde als nächstes geschehen? Einen Augenblick lang gar nichts. Nur die Stille und der Sarg und die emotionale Berauschtheit der Zuhörer. Dann erhob sich Lisa, ging die wenigen Stufen zum Podium hinauf, trat ans Rednerpult und sagte: »Der letzte Satz der dritten Symphonie von Mahler.« Das also war es. Sie lösten alle Bremsen. Sie spielten Mahler.
Nun, manchmal kann man Mahler nicht hören. Wenn er einen am Kragen packt, um einen zu schütteln, hört er einfach nicht mehr auf. Als es vorbei war, weinten alle.
Was mich betrifft, so glaube ich nicht, dass irgendetwas anderes mich derart hätte aufwühlen können, es sei denn Steena Palssons Interpretation von The Man I Love, gesungen 1948 am Fuß von Colemans Bett in der Sullivan Street.
Der drei Straßenblocks weit führende Gang zum Friedhof war hauptsächlich deswegen denkwürdig, weil er scheinbar nicht stattgefunden hatte. Eben noch waren wir wie gelähmt gewesen von der unendlichen Zartheit von Mahlers Adagio-Satz, von der Schlichtheit, die nicht künstlich, nicht berechnet ist, die sich gleichsam mit dem im Leben selbst beschlossenen Tempo und dessen Weigerung zu enden entfaltet ... eben noch waren wir wie gelähmt von jener außerordentlichen Gegenüberstellung von Erhabenheit und Intimität, die mit der stillen, singenden, zurückgenommenen Intensität der Streicher beginnt und sich in Schüben zu dem wuchtigen falschen Finale aufschwingt, welches zum echten, ausgedehnten, monumentalen Finale führt ... eben noch waren wir wie gelähmt vom Emporstreben, Entfalten, Erblühen und Ersterben eines elegischen Schwelgens, das in einem entschlossenen, nie nachlassenden Tempo weiter und immer weiter dahinfließt, das zurückweicht und dann wiederkehrt wie ein Schmerz oder eine Sehnsucht, die nicht vergeht ... eben noch waren wir durch Mahlers sich steigerndes Beharren im Sarg bei Coleman und spürten den ganzen Schrecken der Endlosigkeit und den leidenschaftlichen Wunsch, dem Tod zu entrinnen, und im nächsten Augenblick standen wir unter sechzig oder siebzig anderen auf dem Friedhof und sahen zu, wie der Sarg ins Grab gesenkt wurde - ein äußerst schlichtes Ritual, eine denkbar vernünftige Lösung des Problems, jedoch eine, die auch immer irgendwie unbegreiflich ist. Jedes Mal muss man es sehen, um es glauben zu können.
Ich bezweifelte, dass die meisten vorgehabt hatten, den Leichnam bis zum Grab zu begleiten. Doch Silks Kinder besaßen ein Talent, Pathos zu erzeugen und zu erhalten, und das, so nahm ich an, war der Grund, warum so viele Trauergäste sich so dicht wie möglich um das Loch drängten, das Colemans ewige Ruhestätte sein würde - als wären wir darauf erpicht, uns hineinzustürzen und seinen Platz einzunehmen, uns als Ersatz, als
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