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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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passieren, das kann sehr leicht passieren. Wie soll sie das erklären? Was wird ihr Mann denken? Er wird annehmen, dass ein anderer der Vater dieses Kindes ist. Obendrein ein Schwarzer. Mr. Zuckerman, es war entsetzlich grausam, dass Coleman seinen Kindern nichts gesagt hat. Das ist nicht Walters Urteil, sondern meines. Wenn Coleman es sich in den Kopf gesetzt hatte, seine Rassenzugehörigkeit geheim zu halten, dann hätte er den Preis dafür bezahlen müssen und keine Kinder haben dürfen. Und das wusste er. Das musste er wissen. Stattdessen hat er eine Bombe gelegt. Und jedes Mal, wenn er mir von seinen Kindern erzählt hat, war für mich im Hintergrund diese Bombe. Besonders wenn er über die Zwillinge gesprochen hat - und damit meine ich nicht das Mädchen, sondern den Jungen, Mark, mit dem er so viele Schwierigkeiten hatte. Er hat immer gesagt, Markie habe wahrscheinlich seine Gründe, ihn zu hassen, doch es war, als hätte er die Wahrheit herausgefunden. ›Ich ernte, was ich gesät habe‹, sagte er, ›wenn auch aus den falschen Gründen. Markie genießt nicht mal den Luxus, seinen Vater aus den richtigen Gründen zu hassen. Ich habe ihm auch diesen Teil seines Geburtsrechts genommen.‹ Und ich sagte: ›Aber vielleicht hätte er dich deswegen gar nicht gehasst, Coleman. ‹ Und er sagte: ›Du verstehst mich nicht. Nicht dass er mich gehasst hätte, weil ich schwarz bin. Das meine ich nicht mit den richtigen Gründen. Ich meine, dass er mich gehasst hätte, weil ich es ihm nie gesagt habe und weil er ein Recht hat, es zu wissen.‹ Und dann ließen wir das Thema fallen, weil es dabei so vieles gab, was man missverstehen konnte. Aber offenbar konnte er eines nie vergessen: Seine Beziehung zu seinen Kindern beruhte auf einer Lüge, auf einer schrecklichen Lüge, und Markie hatte sie intuitiv erspürt und irgendwie begriffen, dass Colemans Kinder, die die Identität ihres Vaters in ihren Genen haben und sie - zumindest genetisch und vielleicht auch körperlich, sichtbar - an ihre Kinder weitergeben werden, nie wirklich gewusst haben, wer sie eigentlich sind und wer sie waren. Das ist natürlich bis zu einem gewissen Grad Spekulation, aber manchmal denke ich, dass Coleman Markie als Strafe für das betrachtete, was er seiner Mutter angetan hatte. Auch wenn er das so nie gesagt hat«, fügte Ernestine gewissenhaft hinzu. »Und was Walter betrifft: Worauf ich hinauswollte, ist, dass er nur versucht hat, die Rolle unseres Vaters einzunehmen, indem er dafür sorgte, dass Mutters Herz nicht immer wieder gebrochen werden würde.«
    »Und ist ihm das gelungen?«, fragte ich.
    »Es war nicht mehr zu reparieren, Mr. Zuckerman - nie mehr. Als sie im Krankenhaus gestorben ist, als sie im Delirium war, wissen Sie, was sie da sagte? Sie rief nach der Schwester, wie die Kranken immer nach ihr gerufen hatten. ›Ach, Schwester‹, sagte sie, ›ach, Schwester, setzen Sie mich in den Zug. Ich hab zu Hause ein krankes Baby.‹ Immer und immer wieder. ›Ich hab zu Hause ein krankes Baby.‹ Ich saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und sah sie sterben, und ich wusste, wer das kranke Baby war. Und Walter wusste es auch. Es war Coleman. Ob es ihr besser gegangen wäre, wenn Walt sich nicht eingemischt und Coleman verboten hätte, jemals wieder mit ihr zu sprechen ... Tja, ich zögere immer noch, mich da festzulegen. Aber Walters besonderes Talent als Mann ist seine Entschiedenheit. Das war auch Colemans besonderes Talent. Die Männer in unserer Familie sind alle sehr entschieden. Mein Vater war es und sein Vater, ein methodistischer Pfarrer in Georgia, war es ebenfalls. Diese Männer entscheiden, und damit ist der Fall erledigt. Tja, ihre Entschiedenheit hatte auch ihren Preis. Eins ist aber klar. Das ist mir heute bewusst geworden. Und ich wollte, meine Eltern könnten das wissen.
    Wir sind eine Familie von Lehrern. Angefangen bei meiner Großmutter väterlicherseits. Sie war ein junges Sklavenmädchen, als ihre Herrin ihr das Lesen beigebracht hat, und dann, nach der Abschaffung der Sklaverei, ist sie auf eine Schule gegangen, die damals Georgia State Normal and Industrial School for Colored hieß. So hat es angefangen, und so sind wir dann Lehrer geworden. Das wurde mir heute bewusst, als ich Colemans Kinder sah. Alle bis auf einen sind Lehrer. Und wir Geschwister - Walt, Coleman, ich - sind auch allesamt Lehrer gewesen. Mein eigener Sohn ist eine andere Geschichte. Er hat das College nicht zu Ende gemacht. Wir hatten einige

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