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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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verboten hatte, jemals wieder Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen, seiner Mutter unmissverständlich und mit derselben stahlharten Autorität, die das Kennzeichen des Vaters gewesen war, verboten hatte, jemals wieder Kontakt zu Coleman aufzunehmen.
    »Ich weiß, dass er es nur gut meinte«, sagte Ernestine. »Walt dachte, das sei die einzige Möglichkeit, unsere Mutter davor zu schützen, dass Coleman ihr wehtat. Sie davor zu schützen, dass er ihr an jedem Geburtstag, an jedem Feiertag, an jedem Weihnachten wehtat. Er glaubte, wenn die Verbindung nicht gekappt wäre, würde Coleman unserer Mutter immer und immer wieder das Herz brechen, genau wie er es an jenem Tag getan hatte. Walt war wütend auf Coleman, weil er ohne Vorankündigung, ohne uns zu warnen, nach East Orange gefahren war, zu einer älteren Frau, einer Witwe, und verfügt hatte, wie die Zukunft aussehen würde. Fletcher, mein Mann, hatte immer eine psychologische Erklärung für das, was Walt tat, aber ich glaube nicht, dass Fletcher recht hatte. Ich glaube nicht, dass Walt jemals wirklich neidisch darauf war, dass Coleman diesen Platz in Mutters Herz hatte. Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, er fand Colemans Verhalten einfach unverschämt und explodierte - Coleman hatte nicht nur Mutter beleidigt, sondern uns alle. Walt war derjenige, der politisch dachte; natürlich wurde er wütend. Ich wurde nicht so wütend, ich bin es nie gewesen, aber ich kann Walter verstehen. Ich habe Coleman jedes Jahr an seinem Geburtstag in Athena angerufen. Das letzte Mal vor drei Tagen. Da hatte er nämlich Geburtstag. Seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag. Ich könnte mir vorstellen, als er ums Leben kam, fuhr er gerade von seinem Geburtstagsessen nach Hause. Ich habe ihn angerufen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Aber es ist keiner an den Apparat gegangen, und so habe ich am nächsten Tag noch einmal angerufen. Und darum habe ich dann erfahren, dass er tot war. Jemand war in seinem Haus und hat den Hörer abgenommen und es mir gesagt. Jetzt weiß ich, dass es einer meiner Neffen war. Ich habe erst angefangen, Coleman zu Hause anzurufen, als seine Frau gestorben war und er sich vom College zurückgezogen hatte und allein lebte. Davor habe ich immer nur im Büro angerufen. Ohne jemandem irgendwas zu sagen. Dafür gab es ja auch keinen Grund. Ich habe ihn angerufen, als Mutter gestorben war. Ich habe ihn angerufen, als ich geheiratet habe. Ich habe ihn angerufen, als wir einen Sohn bekommen haben. Ich habe ihn angerufen, als mein Mann gestorben ist. Es waren immer gute Gespräche. Er wollte immer die Neuigkeiten hören, sogar die über Walter und seine Beförderungen. Und jedes Mal, wenn Iris ein Kind bekommen hatte - als Jeffrey geboren war, als Michael geboren war, als die Zwillinge geboren waren -, kriegte ich einen Anruf von Coleman. Er rief mich in der Schule an. Für ihn war das immer eine große Belastung. Mit so vielen Kindern forderte er das Schicksal heraus. Weil sie genetisch mit der Vergangenheit verbunden waren, von der er sich losgesagt hatte, bestand immer das Risiko, müssen Sie wissen, dass es zu einem deutlich sichtbaren Rückschlag kommen würde. Das hat ihm große Sorgen gemacht. Aber es hat ihn nicht daran gehindert, Kinder zu bekommen. Auch das gehörte zu seinem Plan. Er hatte den Plan, ein uneingeschränktes, normales, produktives Leben zu führen. Und trotzdem glaube ich, dass Coleman unter seiner Entscheidung gelitten hat, besonders in den ersten Jahren, und ganz bestimmt, wenn wieder ein Kind unterwegs war. Colemans Aufmerksamkeit ist nie etwas entgangen, und das galt auch für seine Gefühle. Er konnte sich von uns lossagen, aber nicht von seinen Gefühlen. Besonders nicht, wenn es um seine Kinder ging. Ich glaube, er kam selbst zu dem Schluss, dass es etwas Schreckliches hat, einem Menschen so wichtige Informationen über ihn selbst vorzuenthalten, und dass es das Geburtsrecht seiner Kinder war, über ihre Vorfahren Bescheid zu wissen. Und es hatte auch etwas Gefährliches. Stellen Sie sich vor, wie viel Unglück er über seine Kinder gebracht hätte, wenn ihre Kinder erkennbar negroid wären. Bis jetzt hat er Glück gehabt, auch in Hinblick auf seine beiden Enkel in Kalifornien. Aber denken Sie nur an seine Tochter, die noch unverheiratet ist. Mal angenommen, sie heiratet eines Tages einen Weißen - es ist ja mehr als wahrscheinlich, dass sie einen Weißen heiraten wird -, und dann bekommt sie ein negroides Kind. Das kann

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