Der menschliche Makel
wen er wollte und wie er wollte.
Natürlich weiß ich, dass es kein Ende, keine gerechte und ideale Vollendung gibt, doch das bedeutete nicht, dass ich, während ich nur ein paar Meter von dort entfernt stand, wo der Sarg in dem frisch ausgehobenen Grab ruhte, nicht eigensinnig dachte, dieses Ende, selbst wenn es so konstruiert war, dass es Coleman wieder an seinen Platz als bewunderte Figur in der Geschichte des Colleges hob, sei unbefriedigend. Ein zu großer Teil der Wahrheit war noch immer verborgen.
Damit meinte ich die Wahrheit über seinen Tod und nicht die Wahrheit, die wenige Augenblicke später ans Licht kam. Es gibt solche und solche Wahrheiten. Obgleich die Welt voller Menschen ist, die glauben, alles über ihren Nachbarn oder dessen Nachbarn zu wissen, ist das, was man nicht weiß, in Wirklichkeit unendlich. Die Wahrheit über uns ist unendlich. Ebenso wie die Lügen. Zwischen den Mühlsteinen zermahlen, dachte ich. Verleumdet von den Hochgesinnten, verunglimpft von den Selbstgerechten - und dann ausgelöscht von einem wahnsinnigen Kriminellen. Exkommuniziert von den Geretteten, den Auserwählten, den allgegenwärtigen Evangelisten der gerade geltenden Moral - und dann ums Leben gebracht von einem Dämon der Skrupellosigkeit. Beide menschlichen Befindlichkeiten fanden in seiner Person ihr Ziel. Das Reine und das Unreine in all ihrer Heftigkeit, rastlos, einander verwandt in ihrem gemeinsamen Bedürfnis nach einem Gegner. Zersägt von zwei Widersachern, dachte ich. Zersägt von den feindlichen Zähnen der Welt. Von dem Widerstreit, der die Welt ist.
Eine Frau stand allein, dem Grab so nahe wie ich. Sie schwieg und schien nicht zu weinen. Sie schien nicht einmal ganz da zu sein - soll heißen: auf dem Friedhof, bei der Beerdigung. Sie hätte an einer Straßenecke stehen und geduldig auf den nächsten Bus warten können. Die Art, wie sie ihre Handtasche steif an die Brust drückte, ließ mich an eine Frau denken, die im Begriff ist, ihren Fahrschein zu bezahlen und sich dorthin bringen zu lassen, wohin sie gebracht werden will. Dass sie keine Weiße war, verrieten mir nur die vorstehende Kinnpartie und die Form des Mundes - etwas vielsagend Vorgerecktes, das die untere Hälfte ihres Gesichtes beherrschte - und auch die Steifheit ihrer Frisur. Ihre Hautfarbe war nicht dunkler als die einer Griechin oder Marokkanerin, und vielleicht hätte ich all diese Hinweise nicht so nüchtern dahin gehend gedeutet, dass sie eine Schwarze war, wenn Herb Keble nicht unter den wenigen gewesen wäre, die noch nicht gegangen waren. Wegen ihres Alters - sie mochte fünfundsechzig, vielleicht siebzig sein - nahm ich an, dass sie Kebles Frau war. Kein Wunder also, dass sie so seltsam erstarrt wirkte. Es konnte ihr nicht leichtgefallen sein, zu hören, wie ihr Mann sich (aus welchen Motiven auch immer) öffentlich zu Athenas Sündenbock machte. Ich konnte verstehen, dass sie über eine Menge nachzudenken hatte und dass es mehr Zeit erforderte, das alles zu verarbeiten, als diese Beerdigung ihr gelassen hatte. Ihre Gedanken waren sicher noch bei dem, was er in der Rishanger Chapel gesagt hatte. Dort also war sie.
Doch ich irrte mich.
Als ich mich zum Gehen wandte, drehte auch sie sich um, und so standen wir uns plötzlich mit kaum einem halben Meter Abstand gegenüber.
»Mein Name ist Nathan Zuckerman«, sagte ich. »Ich war gegen Ende seines Lebens ein Freund von Coleman.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, antwortete sie.
»Ich glaube, Ihr Mann hat heute eine große Veränderung bewirkt.«
Sie sah mich nicht an, als würde ich mich irren, obgleich es so war. Sie ignorierte mich auch nicht, sie ließ mich nicht einfach stehen und ging davon. Sie wirkte nicht, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte, auch wenn sie sich gewiss in einem Dilemma befand. Gegen Ende seines Lebens ein Freund von Coleman? Wie hätte sie, angesichts ihrer wahren Identität, etwas anderes als »Ich bin nicht Mrs. Keble« sagen und ihrer Wege gehen können?
Doch sie blieb vor mir stehen, mit ausdruckslosem Gesicht, von den Ereignissen des Tages und seinen Enthüllungen so erschlagen, dass es in diesem Augenblick unmöglich gewesen wäre, nicht zu erkennen, in welchem Verhältnis sie zu Coleman gestanden hatte. Es war nicht die Erkenntnis einer Ähnlichkeit mit Coleman, die zu mir durchdrang, in raschen kleinen Schritten, als würde ich beim Betrachten eines entfernten Sterns durch ein Fernrohr die Brennweite ständig verändern, bis ich die
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