Der menschliche Makel
korrekte Einstellung gefunden hatte. Was ich sah - als ich Colemans Geheimnis endlich klar und deutlich erkannte -, war die Ähnlichkeit ihres Gesichtes mit dem von Lisa, die mehr noch die Nichte ihrer Tante als die Tochter ihres Vaters war.
Das meiste, was ich von Colemans Jugend in East Orange weiß, erfuhr ich nach der Beerdigung, in meinem Haus, von Ernestine: wie Dr. Fensterman versucht hatte, Coleman dazu zu bringen, bei der Abschlussprüfung schlechter abzuschneiden, damit Bert Fensterman Jahrgangsbester sein konnte; wie Mr. Silk 1925 das Haus in East Orange gefunden hatte, das kleine Haus, in dem Ernestine noch immer wohnte und das, wie Ernestine erklärte, »einem Ehepaar gehörte, das Streit mit seinen Nachbarn hatte und, um sie zu ärgern, entschlossen war, an Farbige zu verkaufen«. (»Sehen Sie, daran merkt man, zu welcher Generation ich gehöre«, sagte sie später an jenem Nachmittag. »Ich sage ›Farbige‹ und ›Neger‹.«) Sie erzählte mir, dass ihr Vater in der Weltwirtschaftskrise seinen Optikerladen verloren und sehr lange gebraucht hatte, um diesen Verlust zu verwinden - »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ob er ihn überhaupt je verwunden hat« -, und dass er schließlich eine Stelle als Speisewagenkellner gefunden und für den Rest seines Lebens bei der Eisenbahn gearbeitet hatte. Sie erzählte mir, dass Mr. Silk Englisch als »die Sprache von Chaucer, Shakespeare und Dickens« bezeichnet und Wert darauf gelegt hatte, dass seine Kinder sich nicht nur korrekt auszudrücken wussten, sondern auch logisch denken, klassifizieren, analysieren, beschreiben, spezifizieren konnten, und dass sie nicht nur Englisch lernten, sondern auch Latein und Griechisch; sie erzählte, wie er mit ihnen nach New York gefahren war und sie Museen und Broadway-Theater besucht hatten und dass er, als er von Colemans heimlicher Karriere als Amateurboxer für den Newark Boys Club erfahren hatte, mit dieser Stimme, die von Autorität durchdrungen gewesen war, ohne dass er sie hätte erheben müssen, gesagt hatte: »Wenn ich dein Vater wäre, würde ich sagen: ›Du hast gestern Abend gewonnen? Gut. Dann kannst du also ungeschlagen abtreten.‹«Von Ernestine erfuhr ich, dass Doc Chizner, in dessen Boxschule in Newark ich selbst ein Jahr lang nachmittags nach dem Schulunterricht gegangen war, das Talent des jungen Coleman erkannt hatte, nachdem dieser aus dem Boys Club ausgetreten war, dass Doc gewollt hatte, dass er für die University of Pittsburgh boxte, und ihm ein Stipendium als weißer Boxer hätte verschaffen können, dass Coleman sich aber an der Howard University eingeschrieben hatte, weil das der Wille seines Vaters gewesen war. Sie erzählte mir, dass ihr Vater eines Nachts beim Servieren im Speisewagen tot umgefallen war und Coleman sein Studium an der Howard University sofort abgebrochen hatte, um in die Navy einzutreten, und zwar als Weißer. Dass er anschließend nach Greenwich Village gezogen war und sich an der NYU eingeschrieben hatte. Dass er eines Sonntags ein weißes Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, eine hübsche junge Frau aus Minnesota. Dass an jenem Tag um ein Haar die Brötchen verbrannt waren, weil alle so sehr damit beschäftigt gewesen waren, nichts Falsches zu sagen. Dass - zum Glück für alle - Walter, der damals seit kurzem Lehrer in Asbury Park gewesen war, an jenem Tag nicht hatte kommen können und alles so wunderbar gelaufen war, dass Coleman sich nicht hatte beschweren können. Ernestine erzählte mir, wie freundlich Colemans Mutter zu der jungen Frau gewesen war. Zu Steena. Wie rücksichtsvoll und nett sie zu Steena gewesen waren - und Steena zu ihnen. Wie schwer ihre Mutter immer gearbeitet hatte und dass sie nach dem Tod des Vaters allein aufgrund ihrer Tüchtigkeit zur ersten farbigen Stationsschwester der chirurgischen Station eines Newarker Krankenhauses befördert worden war. Und wie sie Coleman vergöttert hatte und nichts, was er getan hatte, ihre Liebe hatte schmälern können. Dass nicht einmal seine Entscheidung, für den Rest seines Lebens so zu tun, als wäre seine Mutter eine andere gewesen, eine Mutter, die er nie gehabt, die es nie gegeben hatte, dass nicht einmal das Mrs. Silk von ihm hatte befreien können. Und dass Walt, nachdem Coleman gekommen war und seiner Mutter gesagt hatte, er werde Iris Gittelman heiraten und sie werde nie die Schwiegermutter ihrer Schwiegertochter und nie die Großmutter ihrer Enkelkinder sein, dass Walt also, nachdem er Coleman
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