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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Farley ihr ständig nachspioniert, doch in den Monaten nach dem Tod ihrer beiden Kinder, die Faunia, wie er behauptete, durch Fahrlässigkeit umgebracht hatte, war er beängstigend unerbittlich. Zweimal tauchte er aus dem Nichts auf - einmal auf dem Parkplatz eines Supermarkts, das andere Mal an einer Tankstelle - und schrie aus dem Fenster seines Pick-ups: »Hure! Schlampe! Mörderin! Du hast meine Kinder umgebracht, du Hure!« Es gab viele Morgen, an denen sie auf dem Weg zum College im Rückspiegel seinen Pick-up und hinter der Windschutzscheibe sein Gesicht sah und seinen Mund, der lautlos die Worte sprach: »Du hast meine Kinder umgebracht!« Manchmal verfolgte er sie auch auf dem Heimweg vom College. Damals lebte sie noch in der unversehrt gebliebenen Hälfte der Bungalowgarage, in der ihre Kinder erstickt waren, und aus Angst vor ihm zog sie von dort in ein Zimmer in Seeley Falls und dann, nach einem gescheiterten Selbstmordversuch, in das Zimmer auf der Milchfarm, wo die beiden Eigentümerinnen und ihre Kinder fast immer da waren, sodass die Gefahr, von ihm belästigt zu werden, nicht so groß war. Nach dem zweiten Umzug tauchte Farleys Pick-up seltener im Rückspiegel auf, und als sie ihn monatelang nicht mehr gesehen hatte, schöpfte sie Hoffnung, er sei für immer verschwunden. Doch jetzt, daran bestand für Faunia kein Zweifel, hatte er irgendwie herausgefunden, dass Coleman und sie ein Verhältnis hatten, und wütend über alles, was ihn an ihr schon immer wütend gemacht hatte, spionierte er ihr wieder nach wie ein Verrückter und legte sich bei Colemans Haus auf die Lauer, um zu sehen, was sie dort tat. Um zu sehen, was die beiden dort taten.
    Als Faunia an jenem Abend in ihren Wagen stieg - den alten Chevy, den sie auf Colemans Wunsch in der Scheune abstellte, damit niemand ihn sehen konnte -, beschloss Coleman, ihr in seinem eigenen Wagen zehn Kilometer weit zu folgen, bis sie auf den Feldweg eingebogen war, der am Kuhstall vorbei zum Farmhaus führte. Auf dem Rückweg vergewisserte er sich immer wieder, dass ihm niemand folgte. Zu Hause schwang er auf dem Weg von dem Schuppen, in dem er seinen Wagen parkte, zum Haus ein Montiereisen, schwang es in alle Richtungen, in der Hoffnung, auf diese Weise jeden, der möglicherweise im Dunkeln lauerte, abzuschrecken.
    Nachdem er acht Stunden lang wach gelegen und mit seinen Sorgen gerungen hatte, beschloss er, keine Anzeige bei der Staatspolizei zu erstatten. Da der Lauscher nicht zweifelsfrei als Farley identifiziert werden konnte, würde die Polizei ohnehin nichts unternehmen können, und wenn durchsickerte, dass Coleman sich an die Polizei gewandt hatte, würde das den bereits zirkulierenden Gerüchten über den ehemaligen Dekan und die Collegeputzfrau nur neue Nahrung geben. Aber nach seiner schlaflosen Nacht konnte Coleman sich nicht überwinden, gar nichts zu unternehmen: Er rief, nachdem er gefrühstückt hatte, seinen Rechtsanwalt Nelson Primus an und fuhr am Nachmittag nach Athena, um sich mit ihm über den anonymen Brief zu beraten. Entgegen Primus' Rat, die Sache auf sich beruhen zu lassen, beauftragte Coleman ihn, folgenden Brief an Delphine Roux zu schreiben: »Sehr geehrte Miss Roux! Ich vertrete Coleman Silk. Vor einigen Tagen haben Sie meinem Mandanten einen anonymen Brief geschrieben, dessen Inhalt beleidigend, belästigend und verunglimpfend ist. Der Wortlaut dieses Briefes ist: ‹Jeder weiß, dass Sie eine misshandelte, analphabetische Frau, die halb so alt ist wie Sie, sexuell ausbeuten.› Bedauerlicherweise haben Sie sich damit in Dinge eingemischt, die Sie nichts angehen, und Mr. Silks gesetzliche Rechte verletzt, weswegen er sich eine Klage ausdrücklich vorbehält.«
    Wenige Tage später erhielt Primus einen drei knappe Sätze umfassenden Brief von Delphine Roux' Anwalt. Den mittleren Satz, in dem Delphine Roux' Urheberschaft des anonymen Briefes rundheraus bestritten wurde, unterstrich Coleman mit Rotstift. Er lautete: »Keine der in Ihrem Brief aufgestellten Behauptungen ist korrekt - sie erfüllen sogar den Tatbestand der Verleumdung.«
    Sofort ließ Coleman sich von Primus die Adresse eines gerichtlich zugelassenen Schriftsachverständigen in Boston geben, der als Gutachter für Privatunternehmen sowie Bundes- und Staatsbehörden arbeitete, und nahm am folgenden Tag den dreistündigen Weg nach Boston auf sich, um dem Sachverständigen Schriftproben von Delphine Roux sowie den anonymen Brief mitsamt dem Umschlag persönlich zu

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