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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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verjagte, ahnte man, wie ausgelassen sie trotz aller sonstigen Schroffheit sein konnte. Man sah, dass ihr Körper mehr zu bieten hatte als Kanten und sehnige Tüchtigkeit, dass sie eine Frau mit festem Fleisch war, an jenem heiklen Punkt angelangt, wo sie nicht mehr reifte, aber noch nicht welkte, eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Blüte, eine Frau, deren graue Haare im Grunde verführerisch wirkten, weil der scharfe Yankeeschnitt ihrer Backenknochen und ihrer Kinnlinie und der lange, unverkennbar weibliche Hals noch nicht dem Verfall des Alters ausgesetzt waren.
    »Das ist mein Nachbar«, sagte Coleman zu ihr, als sie einen Augenblick lang innehielt, sich mit der Armbeuge den Schweiß vom Gesicht wischte und in unsere Richtung sah. »Das ist Nathan.«
    Ich hatte nicht mit Gelassenheit gerechnet. Ich hatte mit einer Frau gerechnet, die unverhohlen zorniger war als sie. Sie nahm meine Anwesenheit lediglich mit einer ruckartigen Bewegung des Kinns zur Kenntnis, doch es war eine Geste, aus der sie eine Menge herausholte. Es war eigentlich das Kinn, aus dem sie eine Menge herausholte. Wenn sie es hob, wie sie es gewöhnlich tat, verlieh es ihr - Männlichkeit. Auch das war in dieser Reaktion: In ihrem direkten, unverwandten Blick lag etwas Männliches, Unversöhnliches, ja auch etwas leicht Verrufenes. Es war der Blick eines Menschen, für den sowohl Sex als auch Treubruch so grundsätzlich wie das tägliche Brot sind. Der Blick einer Ausreißerin, ein Blick, der die Folge der nervtötenden Monotonie des Pechs war. Ihr Haar - goldblondes Haar im ergreifenden ersten Stadium seiner unvermeidlichen Veränderung - wurde im Nacken von einem Gummiband gehalten, doch eine Strähne fiel ihr beim Arbeiten immer wieder in die Stirn, und als Faunia uns jetzt stumm ansah und sie mit der Hand zurückstrich, fiel mir in ihrem Gesicht zum ersten Mal eine Kleinigkeit auf, die mir, vielleicht zu Unrecht, weil ich nach etwas Verräterischem suchte, etwas über sie zu verraten schien: die sich vorwölbende Fülle des schlanken Bogens zwischen Augenbraue und Oberlid. Faunia war eine schmallippige Frau mit einer geraden Nase, klaren blauen Augen, gesunden Zähnen und einem ausgeprägten Kinn, und diese Wölbung unter ihren Augenbrauen war das einzige Exotische an ihr, der einzige Hinweis auf Charme, und mutete wie etwas an, das durch ein Verlangen angeschwollen war. Es trug auch viel dazu bei, dass die harte Unverwandtheit ihres Blicks so beunruhigend düster erschien.
    Alles in allem war Faunia keine verführerische Sirene, die einem den Atem raubte, sondern vielmehr eine nüchtern wirkende Frau, bei deren Anblick man denkt: Als Kind muss sie sehr schön gewesen sein. Und das stimmte: Laut Coleman war sie ein hübsches goldhaariges Mädchen gewesen, mit einem Stiefvater, der die Finger nicht von ihr lassen konnte, und einer verwöhnten Mutter, die sie nicht beschützte.
    Wir sahen zu, wie sie die elf Kühe molk - Daisy, Maggie, Flossie, Bessy, Dolly, Maiden, Sweetheart, Stupid, Emma, Friendly und Jill -, wir sahen zu, wie sie bei jeder einzelnen dieselben Handgriffe machte, und als sie fertig war und in den weißgekalkten Raum mit den großen Spülbecken, den Schläuchen und Sterilisationsapparaten neben dem Melkstand ging, sahen wir ihr durch die Türöffnung zu, wie sie Lauge und Reinigungslösung mischte und wie sie sich, nachdem sie die Vakuumleitung von der Rohrleitung, die Melkbecher von den Schaugläsern sowie die beiden Milchkübel von ihren Deckeln getrennt und schließlich das ganze Melkgeschirr zerlegt hatte, daranmachte, mit einer Reihe von Bürsten und in immer wieder neu eingefülltem klarem Wasser sämtliche Schläuche, Ventile, Dichtungen, Steckverbindungen, Abdeckplatten, Einsätze, Verschlüsse, Scheiben und Kolben zu schrubben, bis alles makellos sauber und keimfrei war. Bevor Coleman seine Milch nahm und wir uns in seinen Wagen setzten, um wieder nach Hause zu fahren, standen wir beinahe eineinhalb Stunden neben dem Kühlschrank, und abgesehen von den zwei Sätzen, mit denen er mich Faunia vorgestellt hatte, wurde kein Wort gesprochen. Man hörte nur das Sirren und Zwitschern der Schwalben, wenn sie zwischen den Balken der Scheune, die sich hinter uns weitete und in der sie ihre Nester gebaut hatten, hindurchflogen, man hörte die Kügelchen in den Betontrog fallen, wenn Faunia den Futtereimer leerte, man hörte das rumpelnde Schlurfen der kaum angehobenen Hufe auf dem Boden des Melkstands, wenn Faunia die Kühe schob

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