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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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und zog und dirigierte, bis sie in der richtigen Position standen, und dann hörte man das Sauggeräusch, das leise, tiefe Atmen der Melkmaschine.
    Als die beiden vier Monate später beerdigt wurden, erinnerte ich mich daran wie an ein Theaterstück, in dem ich als Statist mitgewirkt hatte, als der Komparse, der ich inzwischen ja tatsächlich bin. Nacht für Nacht fand ich keinen Schlaf, weil ich nicht aufhören konnte, zusammen mit den beiden Hauptdarstellern und dem Chor aus Kühen dort oben auf der Bühne zu stehen und die vom gesamten Ensemble hervorragend gespielte Szene zu verfolgen, in der ein verliebter alter Mann der Putzfrau und Farmarbeiterin, seiner heimlichen Geliebten, bei der Arbeit zusieht: Es ist eine Szene voller Pathos, Hypnose und sexueller Unterwerfung, eine Szene, in der dieser Mann mit gieriger Faszination alles aufnimmt, was die Frau mit den Kühen macht - wie sie mit ihnen umgeht, wie sie sie berührt, sie umsorgt, mit ihnen spricht -, eine Szene, in der ein Mann von einer Kraft überwältigt wird, die er so lange unterdrückt hat, dass sie beinahe verschwunden war, und mir das Wiedererwachen ihrer ungeheuren Macht enthüllt. Es war wohl, als beobachtete man Aschenbach dabei, wie er fieberhaft Tadzio beobachtete - seine sexuelle Sehnsucht befeuert durch das quälende Wissen um seine Sterblichkeit -, nur dass wir uns nicht in einem Luxushotel am Lido von Venedig befanden und ebenso wenig Figuren in einem auf deutsch geschriebenen Roman waren, ja damals noch nicht einmal in einem auf englisch geschriebenen Roman: Wir befanden uns in einer Scheune im Nordosten unseres Landes, in Amerika, im Hochsommer des Jahres, in dem der Präsident sich einem Amtsenthebungsverfahren gegenübersah, und bislang waren wir sowenig romanhaft wie die Kühe mythisch oder ausgestopft waren. Das Licht und die Hitze des Tages ( dieser Segen), die gleichbleibende Geruhsamkeit des Lebens einer jeden Kuh, das dem Leben der anderen Kühe entsprach, der verliebte alte Mann, der die geschmeidigen Bewegungen dieser tüchtigen, energischen Frau verfolgte, die Verklärung, der er sich hingab, der Eindruck, als hätte er nie etwas Ergreifenderes erlebt, und auch mein eigenes bereitwilliges Warten, meine eigene Faszination angesichts der extremen Unvereinbarkeit dieser beiden menschlichen Typen, angesichts der Vielfalt, der Variationsbreite, der anarchischen Ungeregeltheit sexueller Verbindungen und angesichts des Gebots an Mensch und Vieh, an hoch differenzierte ebenso wie an kaum differenzierte Lebensformen, zu leben und das Leben nicht bloß zu ertragen, sondern es zu leben und seine sinnlose Bedeutsamkeit fortwährend hinzunehmen, weiterzugeben, zu füttern, zu melken und aus vollem Herzen als das Rätsel anzuerkennen, das es ist - all dies wurde von zehntausend winzigen Eindrücken als Teil der Wirklichkeit bestätigt. Die sinnliche Fülle, der Überfluss, die reichliche, überreichliche Vielfalt der Einzelheiten, die die Rhapsodie des Lebens ausmachen. Und Coleman und Faunia, die jetzt tot sind und die damals Tag für Tag, Minute für Minute tief in den Fluss des Unerwarteten eingetaucht und selbst zwei Einzelheiten in dieser Überfülle waren.
    Nichts hat Bestand, und doch vergeht nichts. Und nichts vergeht, eben weil nichts Bestand hat.
    Der Ärger mit Les Farley begann am Abend dieses Tages, als Coleman im Gebüsch hinter seinem Haus ein Geräusch hörte, zu dem Schluss kam, dass es weder von einem Waschbären noch von einem Reh herrührte, vom Küchentisch aufstand, wo er und Faunia soeben das aus Spaghetti bestehende Abendessen beendet hatten, und von der Hintertür aus im Zwielicht des Sommerabends einen Mann sah, der über das an das Haus grenzende Feld in Richtung Wald rannte. »He! Sie! Halt!« rief Coleman, doch der Mann hielt weder an noch sah er sich um und war kurz darauf zwischen den Bäumen verschwunden. Es war nicht das erste Mal, dass Coleman sich in den vergangenen Monaten von jemandem beobachtet fühlte, der sich in unmittelbarer Nähe des Hauses verbarg, doch zuvor war das stets spätabends vorgekommen, wenn es zu dunkel gewesen war, um erkennen zu können, ob es sich um ein Tier oder einen Spanner gehandelt hatte. Und außerdem war er zuvor immer allein gewesen. An diesem Abend war Faunia zum ersten Mal dabei, und sie war es auch, die, ohne die Silhouette des über das Feld rennenden Mannes sehen zu müssen, den Lauscher als ihren Exmann identifizierte.
    Nach der Scheidung, erzählte sie Coleman, hatte

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