Der menschliche Makel
Und doch haben die zwei Wörter alles ausgelöscht. Keineswegs die anstößigsten, abscheulichsten, entsetzlichsten Wörter, die es gibt, und doch die Wörter, die alles bloßgelegt haben, sodass alle sehen und urteilen können, sodass sie befinden können, in dem, wer und was ich bin, sei keine Wahrheit.
Der Anwalt, der kein Blatt vor den Mund genommen hatte - der praktisch jedes Wort mit warnendem, an regelrechte Ermahnung grenzendem Sarkasmus unterlegt hatte, dessen Zweck er seinem distinguierten alten Mandanten durch keinerlei Abschwächungen hatte verbergen wollen -, kam hinter dem Schreibtisch hervor und begleitete Coleman nicht nur zur Tür, sondern noch weiter, die Treppe hinunter und hinaus auf die sonnige Straße. Hauptsächlich wegen seiner Frau Beth hatte er Coleman das alles so plastisch wie möglich vor Augen führen wollen; er hatte sagen wollen, was er zu sagen hatte, ganz gleich, wie unhöflich es erscheinen mochte, in der Hoffnung, diesen für das College einst so bedeutenden Menschen davon abzuhalten, weitere Schande über sich zu bringen. Diese Sache mit den dunklen Gestalten - zusammen mit dem plötzlichen Tod seiner Frau - hatte Dekan Silk so aus der Bahn geworfen, dass er sich nicht nur übereilt entschlossen hatte, von allen Ämtern zurückzutreten (ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als diese aufgebauschte Sache schon so gut wie erledigt gewesen war), sondern auch jetzt, zwei ganze Jahre später, noch immer nicht imstande war zu beurteilen, was in seinem langfristigen Interesse lag und was nicht. Primus hatte fast den Eindruck, als sei für Coleman Silk diese ungerechte Erniedrigung noch nicht erniedrigend genug, als sei er mit der schlauen Stumpfheit eines Verdammten, eines Menschen, der gegen einen Gott gefrevelt hat, auf der verrückten Suche nach einem letzten, bösartigen, demütigenden Angriff auf seine Person, nach einer letzten Ungerechtigkeit, die seine Erbitterung für immer rechtfertigen würde. Dieser Mann, der in seiner kleinen Welt einst eine Menge Macht gehabt hatte, war anscheinend nicht nur unfähig, sich der Belästigungen durch eine Delphine Roux oder einen Lester Farley zu erwehren, sondern - und das war eine weitere Gefahr für sein angeschlagenes Selbstbild - auch nicht imstande, den armseligen Versuchungen zu widerstehen, mit denen ein alternder Mann den Verlust seiner agilen Männlichkeit zu kompensieren sucht. Aus Colemans Verhalten schloss Primus, dass seine Vermutung in Hinblick auf Viagra richtig gewesen war. Eine weitere chemische Droge, dachte der junge Mann. Angesichts dessen, was Viagra bei ihm anrichtet, könnte der Typ genauso gut Crack rauchen.
Auf der Straße schüttelten sie sich die Hand. »Coleman«, sagte Primus, dessen Frau heute Morgen, als er erwähnt hatte, dass Coleman Silk ihn aufsuchen werde, zum wiederholten Mal seinen Rückzug vom College bedauert und zum wiederholten Mal voller Geringschätzung von Delphine Roux gesprochen hatte, die sie für ihre Rolle in der Dunkle-Gestalten-Affäre verachtete, »Coleman«, sagte Primus, »Faunia Farley stammt nicht aus Ihrer Welt. Gestern Nacht haben Sie die Welt sehen können, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist, die sie zu Boden gedrückt hat und der sie, aus Gründen, die Sie ebenso gut kennen wie ich, niemals entkommen wird. Aus dieser Sache kann etwas Schlimmeres entstehen als gestern Nacht, etwas viel Schlimmeres. Sie kämpfen jetzt nicht mehr in einer Welt, wo man darauf aus ist, Sie fertigzumachen und von Ihrem Posten zu vertreiben, damit einer Ihrer Gegner ihn einnehmen kann. Sie kämpfen nicht mehr gegen eine Bande von wohlerzogenen, elitären Egalitaristen, die ihren Ehrgeiz hinter hehren Idealen verbergen. Sie kämpfen jetzt in einer Welt, in der sich Rücksichtslosigkeit nicht die Mühe macht, sich mit menschenfreundlicher Rhetorik zu tarnen. Das sind Leute, deren grundsätzliche Einstellung dem Leben gegenüber die ist, dass sie von A bis Z beschissen worden sind. Was Sie durch die Art und Weise, wie das College mit Ihrem Fall umgegangen ist, mitgemacht haben, ist - so schlimm das auch war - das, was diese Leute in jeder Minute eines jeden Tages ...«
Das reicht, stand inzwischen so deutlich in Colemans Gesicht geschrieben, dass sogar Primus merkte, dass es an der Zeit war, den Mund zu halten. Coleman hatte schweigend zugehört, seine Gefühle unterdrückt und versucht, unvoreingenommen zu bleiben und das offensichtliche Vergnügen, mit dem der Anwalt einem beinahe vierzig Jahre älteren,
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