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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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gebildeten Mann eine ausgefeilte Predigt über die Tugend der Besonnenheit hielt, zu ignorieren. Um sich bei Laune zu halten, hatte er gedacht: Es macht alle froh, wütend auf mich zu sein - es befreit sie, mir zu sagen, dass ich unrecht habe. Doch als sie auf der Straße standen, konnte er die Argumente nicht mehr von der Art, wie sie vorgebracht wurden, trennen, ebenso wenig wie er Abstand nehmen konnte von dem Mann, der er immer gewesen war: dem Mann, der das Sagen hatte und dem man sich beugte. Um Primus' Mandanten die Sachlage unmissverständlich klarzumachen, hätte es gar nicht so vieler satirischer Elemente bedurft. Wenn der Anwalt ihm lediglich auf überzeugende, fachkundige Weise einen Rat hätte erteilen wollen, wäre eine sehr kleine Menge Spott weit effektiver gewesen.
    Doch Primus' Überzeugung, er sei ein brillanter Mann, den noch Großes erwartete, war ihm anscheinend zu Kopf gestiegen, dachte Coleman, und so hatte sein Spott über einen lächerlichen alten Dummkopf, den ein Medikament für zehn Dollar pro Tablette wieder potent gemacht hatte, jedes Maß verloren.
    »Sie sind ein meisterhafter Redner von außergewöhnlicher Zungenfertigkeit, Nelson. So scharfsinnig. So gewandt. Ein Meister der endlosen, demonstrativ überladenen Sätze. Und so durchtränkt mit Verachtung für alle menschlichen Probleme, mit denen Sie sich noch nie haben herumschlagen müssen.« Coleman verspürte einen übermächtigen Impuls, diesen anmaßenden Hurensohn am Hemd zu packen und in Talbots Schaufenster zu werfen. Doch er zügelte sich, er riss sich zusammen, er sprach aus strategischen Gründen so leise wie möglich, auch wenn er seine Worte nicht annähernd so wohlüberlegt wählte wie unter anderen Umständen: »Ich will Ihre eingebildete Stimme nie mehr hören«, sagte er, »und ich will Ihr verdammtes, selbstgefälliges, lilienweißes Gesicht nie mehr sehen.«
    »›Lilienweiß‹?«, sagte Primus an diesem Abend zu seiner Frau. »Warum ›lilienweiß‹? Man sollte das, was einer von sich gibt, wenn er meint, dass er benutzt und seiner Würde beraubt worden ist, nicht auf die Goldwaage legen. Aber wollte ich denn den Anschein erwecken, als würde ich ihn angreifen? Natürlich nicht. Es ist schlimmer als das. Schlimmer, weil dieser alte Mann nicht mehr durchblickt und ich ihm helfen wollte. Schlimmer, weil er im Begriff ist, aus einem Fehler eine Katastrophe zu machen, und ich ihn aufhalten wollte. Was er für einen Angriff gehalten hat, war in Wirklichkeit ein fehlgeleiteter Versuch, ernst genommen zu werden, ihn zu beeindrucken. Ich hab versagt, Beth, ich hab's versiebt. Vielleicht, weil ich tatsächlich eingeschüchtert war. Auf seine kleine, schmächtige Art ist dieser Mann eine Kraft. Ich hab ihn nicht gekannt, als er noch der große Dekan war. Ich kannte ihn nur als jemanden, der in Schwierigkeiten war. Aber man spürt seine Präsenz. Man kann verstehen, dass die Leute von ihm eingeschüchtert waren. Wenn er dasitzt, ist jemand da . Ich weiß nicht, was es ist. Es ist nicht so leicht, aus jemandem schlau zu werden, den man nur ein halbes dutzendmal gesehen hat. Vielleicht bin ich ja ein bisschen beschränkt. Aber egal, was der Grund ist: Ich habe jeden Anfängerfehler gemacht, den man nur machen kann. Psychopathologie, Viagra, die Doors, Norman O. Brown, Verhütung, Aids. Ich wusste über alles Bescheid. Besonders über die Dinge, die passiert sind, bevor ich auf der Welt war. Ich wusste alles, was man nur wissen kann. Ich hätte knapp, sachlich und objektiv sein sollen - stattdessen habe ich ihn provoziert. Ich habe ihm helfen wollen - stattdessen habe ich ihn beleidigt und alles nur noch schlimmer gemacht. Nein, ich mache ihm keinen Vorwurf, dass er so auf mich losgegangen ist. Aber trotzdem, Schatz, bleibt die Frage: warum weiß ?«
    Coleman hatte das Collegegelände seit zwei Jahren nicht betreten, und auch in die Stadt fuhr er inzwischen nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Er hasste nicht mehr ausnahmslos jedes Mitglied des Lehrkörpers, sondern wollte mit diesen Menschen bloß nichts zu tun haben, denn er fürchtete, dass er, sollte er sich in ein noch so oberflächliches Gespräch verwickeln lassen, nicht imstande sein würde, seinen Schmerz zu verbergen oder zu verbergen, dass er seinen Schmerz verbarg - er fürchtete, dass er kochend vor Wut dastehen würde oder, schlimmer noch, die Beherrschung verlieren und in eine übermäßig artikulierte Version des »Man-hat-mir-Unrecht-getan«-Blues

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