Der menschliche Makel
ausbrechen würde. Ein paar Tage nach seinem Rücktritt hatte er bei der Bank und beim Supermarkt in Blackwell, einem von Arbeitslosigkeit gebeutelten, etwa dreißig Kilometer von Athena entfernten Fabrikstädtchen, Konten eröffnet und sogar eine Karte für die örtliche Leihbücherei beantragt, fest entschlossen, sie auch zu benutzen, ganz gleich, wie mager die Auswahl sein mochte, nur um nie mehr an den Regalen der Collegebibliothek von Athena entlangwandern zu müssen. Er trat in den CVJM von Blackwell ein, und anstatt am späten Nachmittag das Schwimmbad des Colleges zu benutzen oder in der Sporthalle zu trainieren, wie er es beinahe dreißig Jahre lang getan hatte, schwamm er seine Bahnen nun einige Male pro Woche in dem weniger schönen Schwimmbad des CVJM von Blackwell - er ging sogar hinauf in die schmuddelige Sporthalle und begann, zum ersten Mal seit seiner Studentenzeit und wesentlich langsamer als damals, in den vierziger Jahren, wieder an der Boxbirne und am Sandsack zu trainieren. In nördlicher Richtung nach Blackwell zu fahren dauerte doppelt so lange wie die Fahrt den Berg hinab nach Athena, doch in Blackwell war die Wahrscheinlichkeit, einem ehemaligen Kollegen zu begegnen, kleiner, und wenn es sich doch einmal ergab, dann fühlte Coleman sich weniger befangen und belastet, wenn er dem anderen, ohne zu lächeln, zunickte und seiner Wege ging, als wenn diese Begegnung auf den hübschen alten Straßen von Athena stattgefunden hätte, wo es kein Straßenschild, keine Parkbank, keinen Baum, kein Denkmal in der Grünanlage gab, die ihn nicht irgendwie an den Coleman Silk erinnerten, der er gewesen war, bevor er zum Collegerassisten geworden war und sich alles geändert hatte. Die Läden gegenüber der Grünanlage waren erst eröffnet worden, nachdem er sein Amt als Dekan angetreten und alle möglichen neuen Leute nach Athena geholt hatte - Dozenten, Studenten, Eltern von Studenten -, und so hatte er im Lauf der Zeit die Entwicklung der Stadt ebenso beeinflusst wie die des Colleges. Das dahinsiechende Antiquitätengeschäft, das schlechte Restaurant, der Gemüseladen, der kaum etwas abwarf, der provinzielle Schnapsladen, der hinterwäldlerische Friseursalon, das altmodische Herrenbekleidungsgeschäft, die Buchhandlung mit der winzigen Auswahl, das auf vornehm gemachte Cafe, die düstere Apotheke, die deprimierende Kneipe, der zeitungslose Zeitungshändler, das rätselhafte leere Geschäft für Zauberartikel - sie alle waren verschwunden und durch Unternehmen ersetzt worden, wo man eine anständige Mahlzeit bekommen, eine gute Tasse Kaffee trinken, ein Rezept einlösen, einen ordentlichen Wein kaufen, ein Buch über etwas anderes als die Berkshires finden konnte und sich, wenn man etwas Wärmendes für den Winter brauchte, nicht nur mit langer Unterwäsche zufriedengeben musste. Er hatte hinsichtlich des Lehrkörpers und des Lehrplans des Athena Colleges eine »Revolution der Qualität« durchgesetzt, und diese hatte, obgleich das gar nicht seine Absicht gewesen war, auch die Geschäftsstraße der Stadt erfasst. Und das vergrößerte nur seinen Schmerz und die Verwunderung darüber, dass er nun ein Fremder war.
Inzwischen waren zwei Jahre vergangen, und ihm machten nicht mehr so sehr die Leute zu schaffen - wer in Athena, abgesehen von Delphine Roux, dachte noch an Coleman Silk und die Sache mit den dunklen Gestalten? - als vielmehr seine eigene Erschöpfung durch die dicht unter der Oberfläche liegende und blitzschnell aufflammende Bitterkeit; in den Straßen von Athena empfand er zumindest eine größere Aversion gegen sich selbst als gegen diejenigen, die aus Gleichgültigkeit, Feigheit oder Ehrgeiz nicht einmal den leisesten Protest zu seinen Gunsten geäußert hatten. Gebildete Menschen mit akademischen Titeln, die er in dem Glauben eingestellt hatte, sie seien zu vernünftigen, selbstständigen Gedankengängen imstande, waren offenbar nicht geneigt gewesen, die gegen ihn vorgelegten lachhaften Beweise abzuwägen und zu einem angemessenen Schluss zu kommen. Rassist - am Athena College war das mit einmal das emotional am meisten aufgeladene Etikett, das einem angehängt werden konnte, und dieser Emotionalisierung (und der damit verbundenen Angst vor Einträgen in Personalakten und der etwaigen Schmälerung der Beförderungsaussichten) hatten sämtliche Dozenten nachgegeben. Man brauchte nur mit offiziell klingendem Unterton »Rassist« zu sagen, und schon ging jeder potenzielle Verbündete in
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