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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Deckung.
    Zum Campus gehen? Es war Sommer. Die Ferien hatten begonnen. Warum sollte er nicht dorthin gehen, nachdem er beinahe vierzig Jahre in Athena verbracht hatte, nach allem, was zerstört und verloren war, nach allem, was er auf sich genommen hatte, um hierher zu gelangen? Erst »dunkle Gestalten«, dann »lilienweiß« - wer weiß, welcher abstoßende Defekt durch den nächsten leicht antiquierten Ausdruck enthüllt werden wird, durch das nächste beinahe charmant altmodische Wort, das seinem Mund entflieht? Wie schnell man durch das richtige Wort dekuvriert oder vernichtet wird. Was verbrennt die Tarnung, die Maske, die Deckung? Dies: das richtige Wort, spontan und ohne nachzudenken ausgesprochen.
    »Zum tausendsten Mal: Ich habe ›dunkle Gestalten‹ gesagt, und das war ironisch gemeint. Mein Vater war Kneipenwirt, aber er legte großen Wert darauf, dass ich mich klar und korrekt ausdrückte, und ich habe mich immer daran gehalten. Worte haben Bedeutungen - und sogar mein Vater, der die Schule nur bis zur siebten Klasse besucht hat, wusste das. Hinter der Theke hatte er zwei Dinge, mit denen er Streitigkeiten zwischen seinen Gästen geschlichtet hat: einen Totschläger und ein Wörterbuch. Er sagte mir, das Wörterbuch sei mein bester Freund, und das ist es bis heute geblieben. Denn was finden wir, wenn wir dort unter ›dunkel‹ nachsehen? ›Undeutlich, unbestimmt/ »Aber so wurde es nicht verstanden, Dekan Silk. Es wurde vielmehr so aufgefasst: ›Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen, also dunkle Elemente, die etwas zu verbergen haben?‹« »Wenn ich hätte sagen wollen: ›Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder hat sie niemand gesehen, weil sie etwas zu verbergen haben?‹, dann hätte ich genau das gesagt. ›Hat sie schon mal jemand gesehen, oder hat sie niemand gesehen, weil sie zufällig schwarze Studenten sind? Kennt sie jemand, oder sind sie Schwarze, die niemand kennt?‹ Wenn ich das gemeint hätte, dann hätte ich genau das gesagt. Aber wie sollte ich wissen, dass es sich um schwarze Studenten handelte, wenn ich sie doch noch nie in meinem Leben gesehen hatte und bis auf ihre Namen nichts von ihnen wusste? Das einzige, was ich wusste, war, dass sie bis dahin noch nie in meinem Seminar gewesen waren, und nur auf diesen Umstand bezog sich meine Bemerkung. Sehen wir uns doch noch einmal den Wörterbucheintrag für das Adjektiv ›dunkel‹ an. Da heißt es: ›1. nicht hell; 2. unbestimmt; 3. zweifelhaft.‹ Leitet vielleicht irgendjemand aus meiner Bemerkung ab, dass ich die beiden Studenten als zweifelhafte Menschen bezeichnen wollte? Nein? Aber warum nicht? Warum nicht das auch noch, wenn Sie schon mal dabei sind?«
    Also noch ein letzter Blick auf Athena, um die Schande vollständig zu machen.
    Silky. Silky Silk. Der Name, den seit über fünfzig Jahren niemand mehr kannte, und doch erwartete er fast, jemanden »Hey, Silky!« rufen zu hören, als wäre er wieder in East Orange und ginge nach der Schule die Central Avenue entlang - anstatt Athenas Town Street zu überqueren und zum ersten Mal seit seinem Rücktritt den Hügel zum Campus hinaufzugehen -, als ginge er mit seiner Schwester Ernestine die Central Avenue entlang und hörte sich die verrückte Geschichte an, die sie erzählte: wie sie gestern Abend belauscht hatte, was Dr. Fensterman, der jüdische Arzt, der große Chirurg an Moms Krankenhaus, zu ihren Eltern gesagt hatte. Coleman war mit dem Rest der Leichtathletikmannschaft beim Training in der Sporthalle gewesen, und Ernestine hatte in der Küche gesessen und ihre Hausaufgaben gemacht, und so hatte sie gehört, wie Dr. Fensterman Mom und Dad im Wohnzimmer erklärt hatte, es sei für ihn und Mrs. Fensterman von größter Bedeutung, dass ihr Sohn Bertram seinen Highschool-Abschluss als Klassenbester mache. Die Silks wussten, dass Coleman im Augenblick der Klassenbeste war und nur um eine Note vor Bertram lag. Die eine Zwei, die Bertram im letzten Zwischenzeugnis gehabt hatte, die eine Zwei in Physik, die eigentlich eine Eins hätte sein müssen - diese Zwei war das einzige, was die beiden besten Schüler der obersten Klasse trennte. Dr. Fensterman erklärte Mr. und Mrs. Silk, dass Bert wie sein Vater Medizin studieren wolle, doch dazu müsse er makellose Leistungen vorweisen - makellose Leistungen nicht nur auf dem College, sondern Makellosigkeit bis zurück zur Vorschule. Vielleicht wüssten die Silks

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