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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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»Sag's mir! Was?« »Daddy hat gesagt: ›Am liebsten hätte ich den Mann umgebracht.‹ « »Wirklich?« »Ja, wirklich.« »Und Mom?« »›Ich hab mir auf die Zunge gebissen.‹ Das hat sie gesagt. ›Ich hab mir auf die Zunge gebissen.‹« »Und du hast nicht gehört, was sie zu ihm gesagt haben?« »Nein.« »Na, eins ist sicher: Ich werd's nicht tun.« »Natürlich nicht«, sagte Ernestine. »Aber mal angenommen, Dad würde ihm sagen, dass ich es tun werde.« »Bist du verrückt, Coleman?« »Ernie, dreitausend Dollar sind mehr, als Dad in einem ganzen Jahr verdient. Dreitausend Dollar, Ernie!« Und der Gedanke daran, wie Dr. Fensterman seinem Vater eine Papiertüte voller Geld überreichen würde, ließ ihn wieder bis zur Evergreen und zurückrennen, wobei er mit albernen Luftsprüngen über imaginäre Hürden setzte (bei den Highschool-Meisterschaften von Essex County hatte er mehrere Jahre hintereinander den Hürdenlauf gewonnen, und beim Hundert-Yards-Sprint war er Zweiter geworden). Noch ein Triumph - das war sein Gedanke. Noch ein Rekord für den großen, den unvergleichlichen, den einzigartigen Silky Silk! Es stimmte, er war Klassenbester und außerdem ein herausragender Sportler, aber er war auch erst siebzehn, und so bedeutete Dr. Fenstermans Angebot für ihn lediglich, dass er, Silky Silk, für fast alle anderen sehr wichtig war. Die Hintergründe erkannte er noch nicht.
    In East Orange, wo fast jeder weiß war, entweder arm und italienischer Herkunft - das waren diejenigen, die am Stadtrand in Richtung Orange oder unten, im ersten Bezirk von Newark, wohnten - oder reich und Mitglied der Episkopalkirche - die wohnten in den großen Häusern in Upsala oder South Harrison -, gab es sogar noch weniger Juden als Neger, und doch spielten sie und ihre Kinder in Colemans außerschulischem Leben damals eine größere Rolle als alle anderen. Zunächst einmal war da Doc Chizner, der Coleman, als er ein Jahr zuvor zu seinem abendlichen Boxtraining erschienen war, praktisch adoptiert hatte, und jetzt kam auch Dr. Fensterman und bot dreitausend Dollar dafür, dass er die Schule als Zweitbester abschloss, damit Bert den ersten Platz einnehmen konnte. Doc Chizner war ein Zahnarzt, der sich für das Boxen begeisterte. Er ging zu Boxkämpfen, wann immer sich die Gelegenheit bot - in Jersey im Laurel Garden und in der Meadowbrook Bowl, in New York im Madison Square Garden und draußen in St. Nick's. Die Leute sagten: »Man denkt, dass man weiß, worum es bei einem Kampf geht, bis man neben dem Doc sitzt. Wenn man neben Doc Chizner sitzt, merkt man, dass man bisher was ganz anderes gesehen hat.« Doc organisierte Amateurkämpfe in ganz Essex County, auch den Golden-Gloves-Kampf in Newark, und zu seinen Trainingsstunden schickten jüdische Eltern aus Orange und East Orange, aus Maplewood und Irvington, ja sogar aus dem recht weit entfernten Weequahic im Südwesten von Newark ihre Söhne, damit sie lernten, sich zu verteidigen. Coleman war nicht deshalb bei Doc Chizner gelandet, weil er nicht wusste, wie er sich seiner Haut wehren sollte, sondern weil sein Vater dahintergekommen war, dass er sich seit seinem zweiten Highschool-Jahr nach den Runden auf der Aschenbahn ganz allein - und manchmal dreimal die Woche - durch die High Street in den Slums von Newark zum Newark Boys Club in der Morton Street geschlichen und dort heimlich trainiert hatte. Er war vierzehn, als er damit anfing, und wog fünfzig Kilo. Lockerungsübungen, Sparring über drei Runden, Sandsack, Boxbirne, Seilspringen und was so dazugehörte, und nach zwei Stunden ging er heim und machte seine Hausaufgaben. Ein paarmal durfte er sogar mit Cooper Fulham sparren, der im Jahr zuvor in Boston die amerikanischen Meisterschaften gewonnen hatte. Colemans Mutter arbeitete jeden Tag eineinhalb Schichten und manchmal sogar Doppelschichten im Krankenhaus, sein Vater war Speisewagenkellner und kam eigentlich nur zum Schlafen nach Hause, sein älterer Bruder Walt war erst auf dem College und dann in der Armee, und so konnte Coleman kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Er ließ Ernestine schwören, nichts zu verraten, er lernte in der Schulbibliothek, abends im Bett und in den Bussen, mit denen er zur Schule und nach Hause fuhr - zwei für jeden Weg -, und gab sich bei den Hausaufgaben noch mehr Mühe als sonst, damit niemand erfuhr, was er in der Morton Street tat.
    Wenn man ein bisschen boxen wollte, ging man zum Newark Boys Club, und wenn man was drauf hatte und

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