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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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er es nicht wagte aufzusehen - er musterte stattdessen die Stickerei auf der guten Sonntagstischdecke.
    »Du hast zwei Dollar dafür bekommen, Coleman. Wann hast du vor, Profi zu werden?«
    »Ich tu das nicht, um Geld zu verdienen«, sagte Coleman mit noch immer gesenktem Blick. »Das Geld ist mir egal. Ich tu es, weil es mir Spaß macht. Das ist kein Sport, bei dem man bleibt, wenn es einem keinen Spaß macht.«
    »Wenn ich dein Vater wäre, Coleman, weißt du, was ich zu dir sagen würde?«
    »Aber du bist doch mein Vater«, wandte Coleman ein.
    »Ja? Wirklich?« sagte sein Vater.
    »Na klar ...«
    »Tja, da bin ich nicht so sicher. Ich dachte, vielleicht ist Mac Machrone vom Newark Boys Club dein Vater.«
    »Komm schon, Dad. Mac ist mein Trainer.«
    »Ich verstehe. Und wer ist dann dein Vater, wenn ich fragen darf?«
    »Das weißt du doch. Du. Du bist mein Vater.«
    »Bin ich das? Ja?«
    »Nein!«, rief Coleman. »Nein, bist du nicht!« Und damit sprang er, kaum dass man sich zum sonntäglichen Mittagessen hingesetzt hatte, auf, rannte aus dem Haus und machte eine Stunde lang Lauftraining - die Central Avenue hinauf, über die Gemeindegrenze von Orange, durch Orange bis zur Gemeindegrenze von West Orange, die Watchung Avenue entlang zum Rosedale-Friedhof und dann die Washington in südlicher Richtung zur Main -, er rannte und schlug Punches, er sprintete und trabte, sprintete wieder und trabte schattenboxend den Weg zurück zur Brick Church Station und sprintete schließlich den Rest des Weges nach Hause, wo die Familie inzwischen beim Nachtisch angekommen war und er sich, weit ruhiger als zuvor, als er aus dem Haus gestürzt war, auf seinen Platz setzte und darauf wartete, dass sein Vater dort fortfuhr, wo er unterbrochen worden war. Sein Vater, der nie die Beherrschung verlor. Sein Vater, der andere Mittel hatte, einen fertigzumachen. Mit Worten. Mit Sprache. Mit dem, was er »die Sprache von Chaucer, Shakespeare und Dickens« nannte. Mit der englischen Sprache, die einem Niemand nehmen konnte und die Mr. Silk immer mit volltönender, klarer und pathetischer Stimme gebrauchte, als rezitiere er selbst in einer gewöhnlichen Unterhaltung Mark Antons Grabrede auf Cäsar. Jedes seiner drei Kinder hatte einen zweiten Vornamen aus dem Drama, das Mr. Silk am besten auswendig kannte und das seiner Meinung nach nicht nur den Höhepunkt der englischen Literatur darstellte, sondern auch die lehrreichste Studie über Verrat war, die es überhaupt gab: Der älteste Sohn der Silks hieß Walter Anthony, der zweite hieß Coleman Brutus, und ihre jüngere Schwester Ernestine Calpurnia hatte ihren zweiten Vornamen von Cäsars treuer Ehefrau.
    Mr. Silks Karriere als selbstständiger Geschäftsmann hatte mit der Insolvenz der Banken ein bitteres Ende gefunden. Er hatte lange gebraucht, um den Bankrott seines Optikerladens in Orange zu verwinden, sofern er ihn überhaupt je verwunden hatte. Armer Daddy, sagte Mutter - er wollte immer sein eigener Herr sein. Er war im Süden aufs College gegangen, in Georgia, wo er aufgewachsen war - Mutter stammte aus New Jersey -, und hatte die Fächer Ackerbau und Viehzucht belegt. Doch dann brach er das Studium ab und ging nach Norden, nach Trenton, um auf eine Schule für Optiker zu gehen. Dann kam der Erste Weltkrieg, und er wurde zur Armee eingezogen, und dann lernte er Mutter kennen, zog mit ihr nach East Orange, eröffnete ein Geschäft und kaufte das Haus, und dann kam die Wirtschaftskrise, und jetzt war er Kellner im Speisewagen. Und wenn auch nicht im Speisewagen, konnte er doch zu Hause mit aller ihm zu Gebote stehenden Bedachtsamkeit, Präzision und Direktheit sprechen und einen mit Worten vernichten. Er legte großen Wert darauf, dass seine Kinder sich korrekt ausdrückten. Sie sagten nie: »Da, ein Wauwau.« Sie sagten nicht einmal: »Da, ein Hund.« Sie sagten: »Da, ein Dobermann. Da, ein Beagle. Da, ein Terrier.«
    Sie lernten, dass es Unterscheidungen gab. Sie lernten, welche Kraft einer genauen Ausdrucksweise innewohnte. Ihr Vater lehrte sie ununterbrochen die englische Sprache. Selbst die Freunde und Freundinnen, die seine Kinder mit nach Hause brachten, wurden von Mr. Silk verbessert.
    Als er noch Optiker war und über dem dunklen, an einen Geistlichen gemahnenden Anzug einen weißen Arztkittel trug und eine mehr oder weniger geregelte Arbeitszeit hatte, blieb er nach dem Dessert am Esstisch sitzen und las die Zeitung. Alle lasen die Zeitung. Jedes der Kinder, selbst die kleine

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