Der menschliche Makel
Ernestine, musste sich die Newark Evening News vornehmen, und zwar nicht bloß die Comicseite. Seine Mutter, Colemans Großmutter, hatte von ihrer Herrin lesen gelernt und war nach der Abschaffung der Sklaverei auf eine Schule gegangen, die damals Georgia State Normal and Industrial School for Colored geheißen hatte. Sein Vater war methodistischer Pfarrer gewesen. Bei den Silks hatte man die alten Klassiker gelesen. Bei den Silks ging man mit den Kindern nicht zu Boxkämpfen, sondern ins Metropolitan Museum of Art in New York, um ihnen Rüstungen zu zeigen. Man ging mit ihnen ins Hayden Planetarium, damit sie etwas über das Sonnensystem lernten. Man ging mit ihnen regelmäßig ins Museum of Natural History. Und am 4. Juli 1937 ging Mr. Silk, trotz der erheblichen Kosten, mit ihnen allen ins Music Box Theatre am Broadway, damit sie George M. Cohan in I'd Rather Be Right sahen. Coleman wusste noch, was sein Vater tags darauf am Telefon zu seinem Bruder, Onkel Bobby, gesagt hatte: »Weißt du, was George M. Cohan nach all den Vorhängen, die er bekam, getan hat? Er hat sich eine ganze Stunde lang auf die Bühne gestellt und alle Lieder noch einmal gesungen. Kann ein Kind eine bessere Einführung ins Theater bekommen?«
»Wenn ich dein Vater wäre«, fuhr sein Vater fort, als der Junge ernst vor seinem leeren Teller saß, »weißt du, was ich dann zu dir sagen würde?«
»Was denn?«, sagte Coleman leise, nicht weil ihn der Trainingslauf erschöpft hatte, sondern weil er sich schämte, zu seinem eigenen Vater, der nicht mehr Optiker, sondern Speisewagenkellner war und es bis an sein Lebensende bleiben würde, gesagt zu haben, er sei nicht sein Vater.
»Ich würde sagen: ›Du hast gestern Abend gewonnen? Gut. Dann kannst du ungeschlagen abtreten. Du kannst abtreten.‹ Das würde ich zu dir sagen, Coleman.«
Später, nachdem Coleman den ganzen Nachmittag über Hausaufgaben gemacht und seine Mutter mit dem Vater gesprochen hatte, war es leichter, mit ihm zu reden. Seine Eltern saßen mehr oder weniger entspannt im Wohnzimmer und hörten zu, während Coleman die Herrlichkeiten des Boxens schilderte und ihnen erklärte, dass ein Sieg im Ring angesichts der Fähigkeiten, die er erforderte, noch besser war als ein Sieg auf der Aschenbahn.
Jetzt war es seine Mutter, die Fragen stellte, und ihr zu antworten war nicht schwierig. Ihr jüngerer Sohn war wie ein Geschenk in alle schönen Träume eingehüllt, die Gladys Silk je gehabt hatte, und je hübscher und intelligenter er wurde, desto schwerer fiel es ihr, ihn von dem Kind ihrer Träume zu unterscheiden. So sanft und einfühlsam sie im Umgang mit den Patienten im Krankenhaus sein konnte, so fordernd und bestimmt konnte sie gegenüber den anderen Schwestern, ja sogar gegenüber den Ärzten, den weißen Ärzten, sein, denn an deren Verhalten legte sie dieselben strengen Maßstäbe an wie an ihr eigenes. Auch Ernestine war davon nicht ausgenommen, Coleman dagegen sehr wohl. Coleman bekam von ihr dasselbe wie ihre Patienten: unerschütterliche Freundlichkeit und Fürsorge. Coleman bekam praktisch alles, was er wollte. Der Vater wies ihm den Weg, die Mutter nährte ihn mit ihrer Liebe. Die bewährte Aufteilung.
»Ich verstehe nicht, wie du wütend auf jemanden werden kannst, den du gar nicht kennst«, sagte sie. »Gerade du mit deinem ausgeglichenen Wesen.«
»Man wird eben nicht wütend. Man konzentriert sich. Es ist ein Sport. Vor einem Kampf wärmt man sich auf. Man macht Schattenboxen. Man bereitet sich vor auf das, was einen erwartet.«
»Und wenn du deinen Gegner noch nie im Leben gesehen hast?«, fragte sein Vater und zügelte seinen Sarkasmus, so gut er konnte.
»Ich meine nur«, sagte Coleman, »dass man nicht wütend werden muss .«
»Aber«, fragte die Mutter, »was ist, wenn der andere wütend wird?«
»Das spielt keine Rolle. Man gewinnt mit Köpfchen, nicht mit Wut. Soll er doch wütend werden. Was macht das schon? Man muss überlegen. Es ist wie eine Schachpartie. Wie Katz und Maus. Man kann den anderen führen. Gestern Abend hab ich gegen einen Achtzehn-, Neunzehnjährigen gekämpft, der ein bisschen langsam war. Er hat mir einen Jab an die Schläfe gegeben. Als er es das nächste Mal versuchte, war ich darauf vorbereitet und verpasste ihm einen rechten Konter, den er nicht mal kommen sah. Er ist zu Boden gegangen. Normalerweise lege ich keinen auf die Bretter, aber bei ihm hab ich's getan. Und zwar, weil ich ihn dazu verleitet hab zu denken, er
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