Der menschliche Makel
und wenn man das Geheimnis preisgab, dann mit allen anderen Mitteln, nur nicht mit dem Mund.
Im magischen, mythischen West Point, wo es ihm an jenem Tag schien, als wäre in jedem Quadratzentimeter der am Fahnenmast flatternden Fahne mehr von Amerika als in jeder anderen Fahne, die er je gesehen hatte, und wo die eisernen Gesichter der Kadetten für ihn erfüllt waren von einer überwältigenden heroischen Bedeutung, selbst hier, im patriotischen Mittelpunkt, im Mark des unzerbrechlichen
Rückgrats seines Landes, wo die Fantasien eines Sechzehnjährigen deckungsgleich waren mit den offiziellen Fantasien, wo alles, was er sah, ihn mit einer ekstatischen Liebe nicht nur zu sich selbst, sondern zu allem, was er sah, beseelte, als wäre die ganze Natur eine Manifestation seines eigenen Lebens - als wären die Sonne, der Himmel, die Berge, der Fluss, die Bäume nichts anderes als ein millionenfach vergrößerter Coleman Brutus »Silk« Silk -, selbst hier kannte niemand sein Geheimnis, und so ging er in die erste Runde und boxte nicht wie Mac Machrones ungeschlagener Konterboxer, sondern schlug mit aller Kraft zu. Wenn sein Gegner und er vom selben Kaliber waren, musste er seinen Kopf anstrengen, doch wenn der andere ein leichter Gegner war und Coleman das früh merkte, konnte er aggressiver kämpfen und mit Kraft zuschlagen. Und so war es in West Point. Im Nu schwollen dem anderen die Augen zu, seine Nase blutete, und Coleman trieb ihn vor sich her. Und dann geschah etwas, was noch nie zuvor geschehen war. Er verpasste seinem Gegner einen Haken, und seine Faust schien zu drei Vierteln im Körper des anderen zu verschwinden. Sie ging so tief hinein, dass er staunte, doch der Boxer aus Pittsburgh staunte noch viel mehr. Coleman wog knapp achtundfünfzig Kilo und war nicht gerade ein junger Boxer, der seine Gegner k. o. schlug. Er hatte sich nicht mal richtig hingestellt, um diesen einen guten Schlag zu landen - das war nicht sein Stil -, und doch ging dieser Treffer so tief in den Körper, dass der Bursche, ein immerhin zwanzigjähriger Collegeboxer, einfach vornüberklappte, weil Coleman ihn »auf dem Punkt«, wie Doc Chizner es immer nannte, erwischt hatte. Er hatte genau auf den Punkt getroffen, und der Typ klappte vornüber. Einen Augenblick lang dachte Coleman, er werde sich vielleicht übergeben, und bevor er das tun oder zu Boden gehen konnte, wollte Coleman ihm noch eine Rechte verpassen - als dieser weiße Bursche zusammenklappte, sah er in ihm nur einen, den er restlos fertigmachen wollte -, doch plötzlich rief der Pittsburgher Trainer, der bei diesem Kampf der Ringrichter war: »Nicht, Silky!«, und als Coleman dennoch ausholte, um diesen letzten rechten Haken zu schlagen, fiel er ihm in den Arm und brach den Kampf ab.
»Und dabei«, sagte Doc auf dem Heimweg, »war dieser Junge ein verdammt guter Boxer. Aber als sie ihn in seine Ecke gezogen haben, mussten sie ihm sagen, dass der Kampf vorbei war. Er saß schon wieder in seiner Ecke und wusste noch immer nicht, was eigentlich passiert war.«
Versunken im Gefühl des Sieges, im Zauber, in der Ekstase dieses letzten Schlages und des herrlichen Rausches der Raserei, die aus ihm herausgebrochen war und ihn nicht weniger überwältigt hatte als seinen Gegner, bemerkte Coleman, beinahe so, als sagte er es im Schlaf und spräche es nicht laut aus, während er im Wagen saß und den Kampf in Gedanken noch einmal erlebte: »Ich schätze, ich war zu schnell für ihn, Doc.«
»Ja, ja, schnell. Klar, schnell. Ich weiß, dass du schnell bist. Aber auch stark. Das war der beste Haken, den du je geschlagen hast, Silky. Mein Junge, du warst zu stark"italiv“ für ihn.«
War er das? War er wirklich stark?
Er ging trotzdem auf die Howard University. Hätte er das nicht getan, dann hätte sein Vater ihn - nur mit Worten, nur mit der englischen Sprache - umgebracht. Mr. Silk hatte alles geplant: Coleman würde in Howard Medizin studieren, er würde dort ein hellhäutiges Mädchen aus einer guten Familie kennenlernen, heiraten, sich niederlassen und Kinder haben, die ebenfalls dort studieren würden. In Howard, wo ausschließlich Schwarze studierten, würden Colemans überragende äußerliche und intellektuelle Vorzüge ihn in die obersten Ränge der schwarzen Gesellschaft katapultieren und zu jemandem machen, zu dem die Leute für immer aufsehen würden. Doch schon in seiner ersten Woche in Howard, als er am Samstag mit seinem Zimmergenossen, dem Sohn eines Rechtsanwalts
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