Der menschliche Makel
machte er aus der Zwei eine Eins. Coleman wäre es nicht im Traum eingefallen, einen Lehrer um die Abänderung einer Note zu bitten, doch andererseits hatte er dazu auch nie einen Anlass. Er bekam seine Einsen immer auf Anhieb, vielleicht, weil er nicht Walts widerborstigen Trotz besaß, vielleicht, weil er Glück hatte, oder vielleicht auch, weil er intelligenter war und es ihm leichter fiel als Walt, gute schulische Leistungen zu erbringen. Und als in der siebten Klasse er es war, der nicht zum Geburtstag eines weißen Freundes eingeladen wurde (und dieser Freund war ein Junge, der ein Stück weit die Straße hinunter im Mietshaus an der Ecke wohnte, der Sohn des Hausmeisters, mit dem Coleman immer zur Schule und nach Hause gegangen war), verstand er das nicht als Ablehnung durch die Weißen, sondern - nach anfänglicher Verwunderung - als Ablehnung durch Ricky Watkins blöde Eltern. Als er bei Doc Chizner Boxunterricht gab, wusste er, dass dort Jungen waren, die sich von ihm abgestoßen fühlten, die sich nicht von ihm anfassen lassen oder mit seinem Schweiß in Berührung kommen wollten, und bemerkte, dass hin und wieder ein Junge nicht mehr zum Unterricht erschien - wiederum vermutlich, weil die Eltern nicht wollten, dass er von einem farbigen Jungen Boxunterricht oder überhaupt irgendeine Art von Unterricht erhielt -, doch im Gegensatz zu Walt, der unfehlbar jede Zurücksetzung registrierte, konnte Coleman so etwas letztlich vergessen, darüber hinwegsehen oder beschließen, so zu tun, als sähe er darüber hinweg. Einmal wurde einer der Jungen aus der Leichtathletikmannschaft bei einem Verkehrsunfall ernstlich verletzt, und die Mannschaftsmitglieder boten sich an, Blut für eine Transfusion zu spenden. Unter ihnen war auch Coleman, doch sein Blut war das Einzige, das die Eltern des Jungen ablehnten. Sie dankten ihm und sagten, es sei genug Blut vorhanden, doch er kannte den wahren Grund. Nein, er wusste schon, was los war. Er war zu gewitzt, um es nicht zu wissen. Bei Leichtathletikwettkämpfen trat er gegen viele weiße Jungen aus Newark an: Italiener aus Barringer, Polen aus East Side, Iren aus Central, Juden aus Weequahic. Er sah, er hörte, er schnappte dies und das auf. Coleman wusste, was los war. Aber er wusste auch, was nicht los war, zumindest dort, wo der Mittelpunkt seines Lebens war. Die schützenden Eltern, der schützende ältere, einen Meter zweiundneunzig große Bruder Walt, sein eigenes Selbstvertrauen, sein gewinnender Charme, seine Fähigkeiten als Läufer (»der schnellste Junge in den Oranges«), ja sogar seine Hautfarbe, die ihn zu einem Menschen machte, den die Leute manchmal nicht recht einzuordnen wussten - all dies trug dazu bei, dass Coleman über Beleidigungen hinwegging, die Walt unerträglich fand. Und außerdem gab es da noch den Wesensunterschied: Walt war Walt, ganz und gar Walt, und das war Coleman ganz und gar nicht. Wahrscheinlich gab es keine bessere Erklärung für ihre verschiedenen Reaktionen.
Aber »Nigger« - und damit meinten sie ihn ? Das machte ihn fuchsteufelswild. Und doch - wenn er nicht in große Schwierigkeiten geraten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Geschäft zu verlassen. Dies war kein Amateurboxkampf bei den Knights of Pythias, sondern Woolworth in Washington. Weder seine Fäuste noch seine Beinarbeit oder seine Wut konnten ihm hier irgendwie von Nutzen sein. An Walter durfte er gar nicht denken. Wie hatte sein Vater es geschafft, mit dieser Scheiße fertig zu werden?
Mit dieser Scheiße, die ihm im Speisewagen tagein, tagaus in irgendeiner Form entgegenschlug? Trotz all seiner frühreifen Klugheit hatte Coleman nie gemerkt, wie behütet sein Leben bisher gewesen war, und ebenso wenig hatte er gewusst, wie viel innere Stärke sein Vater besaß, oder ermessen können, welch eine mächtige Kraft dieser Mann war - und mächtig nicht nur, weil er sein Vater war. Nun endlich begriff Coleman, was sein Vater hinzunehmen verdammt war. Und er sah auch die ganze Schutzlosigkeit seines Vaters, während er zuvor naiv genug gewesen war, sich angesichts des stolzen, strengen und manchmal geradezu unerträglichen Gebarens, das Mr. Silk an den Tag legte, vorzustellen, sein Vater sei unverletzlich. Doch nun, da irgendjemand Coleman - spät genug - ins Gesicht gesagt hatte, er sei ein Nigger, erkannte er schließlich, welch ein gewaltiger Schutz vor der großen amerikanischen Bedrohung sein Vater für ihn gewesen war.
Aber das machte das Leben in Howard
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