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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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wieder mit dem Kopf zustießen, bis das Gesicht ihres Gegners kaum noch zu erkennen gewesen war. Nein, Coleman sollte sich unbesiegt zurückziehen, und wenn er aus Freude am Kampf, am Sport, boxen wollte, dann würde er das nicht im Newark Boys Club tun, der in Mr. Silks Augen für die Slumkinder da war, für Analphabeten und jugendliche Straftäter, die entweder auf die Gosse oder auf das Gefängnis zusteuerten, sondern hier in East Orange, unter der Anleitung von Doc Chizner, der damals, als Mr. Silk noch sein Geschäft gehabt und die Gewerkschaftsmitglieder mit Brillen ausgestattet hatte, der Zahnarzt für die Mitglieder der Elektrikergewerkschaft gewesen war. Doc Chizner war noch immer Zahnarzt, doch am Feierabend brachte er den Söhnen jüdischer Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäftsleute die Grundbegriffe des Boxens bei, und man konnte sicher sein, dass bei seinem Unterricht niemand verletzt oder für den Rest seines Lebens entstellt wurde. Für Colemans Vater waren Juden, selbst die zudringlichen, unangenehmen Juden wie Dr. Fensterman, wie indianische Führer: schlaue Leute, die einem, der draußen stand, den Weg hinein weisen und gesellschaftliche Möglichkeiten zeigen konnten, die einer intelligenten farbigen Familie vorführten, wie man es machen musste.
    So kam Coleman zu Doc Chizner und wurde der farbige Junge, den alle privilegierten jüdischen Jungen kennenlernten - wahrscheinlich der einzige, den sie je kennenlernen würden. Es dauerte nicht lange, und Coleman war Docs Assistent und vermittelte diesen jüdischen Jungen zwar nicht die Feinheiten - beispielsweise den sparsamen Einsatz von Energie und Bewegung -, die Mac Machrone seinem Musterschüler beigebracht hatte, aber wenigstens die Grundbegriffe. »Wenn ich ›eins‹ sage, schlägst du einen Jab. Wenn ich ›eins-eins‹ sage, schlägst du einen doppelten Jab. Wenn ich ›eins-zwei‹ sage, schlägst du einen linken Jab und eine rechte Gerade, und bei ›eins-zwei-drei‹ einen linken Jab, eine rechte Gerade und einen linken Haken.« Wenn die anderen nach Hause gegangen waren - gelegentlich hatte sich einer eine blutige Nase geholt und ließ sich nie wieder sehen -, arbeitete Doc Chizner allein mit Coleman. An manchen Abenden baute Doc seine Kondition auf, indem er den Infight trainierte, bei dem nur gezogen, gezerrt und geschlagen wurde, sodass danach jedes Sparring vergleichsweise ein Kinderspiel war. Doc ließ Coleman sein Lauftraining und Schattenboxen in aller Frühe absolvieren, wenn der Pferdewagen des Milchmanns mit der Morgenlieferung durchs Viertel fuhr. In einem grauen Kapuzensweatshirt lief Coleman um fünf Uhr früh, dreieinhalb Stunden vor Schulbeginn, durch die Straßen, ganz gleich, wie kalt es war, ganz gleich, ob es schneite. Niemand sonst war unterwegs, niemand sonst rannte, lange bevor irgendjemand wusste, was Rennen war. Schattenboxend lief er fünf schnelle Kilometer und hörte nur auf, in die Luft zu schlagen, wenn er, das Gesicht finster unter der an einen Mönch gemahnenden Kapuze verborgen, vor dem Schlusssprint auf Höhe des Milchwagens war, denn er wollte das große, braune, dahintrottende Pferd nicht erschrecken. Die Langeweile dieser Läufe war ihm verhasst, aber er setzte nicht einen einzigen Tag damit aus.
    Etwa vier Monate bevor Dr. Fensterman im Haus der Silks erschien, um Colemans Eltern sein Angebot zu unterbreiten, fuhr Coleman eines Samstags mit Doc Chizner in dessen Wagen nach West Point, wo Doc bei einem Turnier zwischen der Armee und der University of Pittsburgh Ringrichter sein sollte. Doc kannte den Pittsburgher Trainer und wollte, dass er Coleman boxen sah. Er war sicher, dass der Trainer Coleman angesichts seiner Zensuren ein Vierjahresstipendium für Pittsburgh verschaffen konnte, ein besseres Stipendium, als er für seine Leistungen in Leichtathletik je bekommen würde. Als Gegenleistung würde er lediglich für die Universitätsstaffel boxen müssen.
    Nein, es war nicht so, dass Doc ihm auf dem Hinweg riet, er solle dem Trainer sagen, er sei ein Weißer. Er riet Coleman nur, nicht zu erwähnen, dass er ein Farbiger sei.
    »Wenn keiner das Thema anschneidet«, sagte Doc, »schneidest du es auch nicht an. Du bist weder das eine noch das andere. Du bist Silky Silk. Das reicht. Das ist die Sache.« Das war Docs Lieblingsausdruck: Das ist die Sache. Noch ein Satz, dessen Wiederholung Colemans Vater in seinem Haus nicht dulden würde.
    »Und er wird es nicht merken?«, fragte Coleman.
    »Wie denn? Wie

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