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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Iris nichts Beängstigendes. Ihre Unvoreingenommenheit besaß nicht einmal jene moralische Qualität, auf die die Liberalen und die Verfechter der Willens- und Gedankenfreiheit so stolz sind; sie war eher eine Manie, eine verdrehte Antithese zur allgemeinen Selbstgerechtigkeit. Die den meisten Menschen unentbehrlichen Erwartungen, die Unterstellung von Bedeutungen, das Vertrauen in Autoritäten, die Heiligung von Klarheit und Ordnung erschienen ihr mehr als alles andere unsinnig und vollkommen verrückt. Wenn die Dinge so geschahen, wie sie geschahen, wenn die Geschichte den Verlauf nahm, den sie nahm, wie konnte dann so etwas wie Normalität im Leben verwurzelt sein?
    Und dennoch erzählte er Iris, er sei Jude und Silk sei eine Verballhornung von Silberzweig, zu der ein wohlmeinender Beamter der Einwanderungsbehörde seinen Vater auf Ellis Island genötigt habe. Er trug sogar das biblische Zeichen der Beschneidung, das zu jener Zeit die wenigsten seiner schwarzen Freunde aus East Orange vorzuweisen hatten. Seine Mutter war von der damals gerade aufkommenden medizinischen Ansicht überzeugt, eine Beschneidung habe große hygienische Vorteile, und so ließen die Silks an beiden Jungen in der zweiten Woche nach der Geburt diese rituelle Operation, die bei Juden Tradition ist - und die damals auch von einer zunehmenden Zahl nichtjüdischer Eltern als postnatale Behandlung entdeckt wurde -, von einem Arzt vornehmen.
    Coleman behauptete inzwischen seit mehreren Jahren, er sei Jude - oder vielmehr ließ er die Leute, die das dachten, in ihrem Glauben -, denn er hatte gemerkt, dass sowohl an der NYU als auch in den Cafés, in denen er herumhing, viele das vermuteten. In der Navy hatte er gelernt, dass niemand lange nachfragt, solange die Geschichte, die man über sich selbst erzählt, nur einigermaßen gut und stimmig ist, weil sich kein Mensch so sehr dafür interessiert. Seine Bekannten an der NYU und im Village hätten - wie seine Kumpels in der Navy - ebenso gut annehmen können, dass seine Vorfahren aus dem Nahen Osten stammten, doch da in jenen Nachkriegsjahren die jüdische Selbstverliebtheit unter der intellektuellen Avantgarde rings um den Washington Square gerade auf einem Höhepunkt war, da der Drang zur Verherrlichung, der diese mentale jüdische Kühnheit vorantrieb, langsam unbezähmbar zu werden schien und sowohl ihre Witze und Familienanekdoten als auch ihr Gelächter, ihre Späße, ihre Wortspiele, ihre Streitigkeiten, ja sogar ihre Beleidigungen eine Aura kultureller Bedeutsamkeit besaßen, die der von Commentary, Midstream und Partisan Review nicht nachstand, konnte er nicht widerstehen, auf diesen Wagen aufzuspringen, zumal es ihm die Jahre, in denen er Doc Chizners Assistent gewesen war und jüdischen Jungen aus Essex County das Boxen beigebracht hatte, leichter machten, eine jüdische Kindheit in New Jersey vorzugaukeln, denn dort lauerten weniger Fallstricke als hinter der Behauptung, er sei ein amerikanischer Matrose mit syrischen oder libanesischen Eltern. Dass er sich für das geborgte Prestige eines aggressiv denkenden, selbstanalytischen, respektlosen amerikanischen Juden entschied, der in den Ironien einer Manhattaner Randexistenz schwelgte, erwies sich als weit weniger verwegen, als es ihm erschienen wäre, wenn er sich diese Tarnung jahrelang ausgedacht und immer weiter vervollkommnet hätte, doch er fand sich - ein durchaus angenehmer Gedanke - außerordentlich verwegen, und wenn er an Dr. Fensterman dachte, der seiner Familie dreitausend Dollar angeboten hatte, damit Coleman beim Abschlussexamen nicht seine volle Leistung gab und den brillanten Bert zum Jahrgangsbesten machte, kam ihm diese Entscheidung auch außerordentlich komisch vor, wie ein unerhörter, sehr spezifischer Witz, der für ausgleichende Gerechtigkeit sorgte. Was für eine großartige, alles umfassende Idee der Welt, ihn zu einem solchen Menschen zu machen, was für ein grandioser Streich! Wenn es je eine perfekte, einzigartige Schöpfung gegeben hatte - und war es nicht immer schon sein innerster, von seinem Ego befeuerter Ehrgeiz gewesen, einzigartig zu sein? -, dann war es diese magische Verwandlung in den Fensterman-Sohn seines Vaters.
    Er spielte nicht mehr. Iris - die aufgewühlte, ungezähmte, ganz und gar un-Steena-artige, nichtjüdisch jüdische Iris - war das Medium, durch das er sich aufs neue erschaffen konnte, und endlich machte er es richtig. Er war nicht mehr damit beschäftigt, anzuprobieren und wieder

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