Der menschliche Makel
er Steena seiner Familie vorgestellt hat. Um allen gegenüber ehrlich zu sein? Und was hat das gebracht? Nein, keine Familien - jedenfalls nicht jetzt.
Es macht ihm so viel Spaß, mit ihr zusammen zu sein, dass eines Nachts die Wahrheit einfach aus ihm heraussprudelt. Er erzählt ihr sogar, dass er geboxt hat, und auch das ist etwas, das er Steena nie sagen konnte. Bei Ellie ist das ganz leicht. Dass sie es nicht missbilligt, lässt sie in seiner Achtung weiter steigen. Sie ist unkonventionell - und doch so vernünftig. Er hat es mit einer Frau zu tun, die alles andere als beschränkt ist. Und diese wunderbare Frau will es ganz genau wissen. Also erzählt er, und wenn er sich nicht bremst, ist er ein ausgezeichneter Erzähler. Ellie ist fasziniert. Er erzählt von der Navy. Er erzählt von seiner Familie, die gar nicht soviel anders ist als Ellies Familie, nur dass ihr Vater, ein Apotheker mit einem Drugstore in Harlem, noch lebt, und obgleich er sich nicht gerade gefreut hat, als sie ins Village gezogen ist, kann er - zum Glück für Ellie - nicht aufhören, sie zu vergöttern. Coleman erzählt ihr von Howard und dass er es dort nicht ausgehalten hat. Sie sprechen lange über Howard, denn ihre Eltern wollten sie ebenfalls dort studieren lassen. Und bei jedem Thema, über das sie reden, stellt er fest, dass er sie mühelos zum Lachen bringen kann. »Ich hatte noch nie so viele Farbige gesehen, nicht mal in Südjersey, bei den Familientreffen. In Howard kam es mir so vor, als wären dort zu viele Neger auf einem Haufen, aus allen Glaubensrichtungen und Schichten, aber ich habe mich unter ihnen nicht wohlgefühlt. Konnte nicht einsehen, was das mit mir zu tun haben sollte. Alles dort war so konzentriert, dass aller Stolz, den ich hatte, zusammenschrumpfte. Er schrumpfte zu einem Nichts zusammen, weil die ganze Umgebung so konzentriert und so falsch war.« »Wie bei einem zu süßen Soda«, sagt Ellie. »Na ja«, antwortet er, »es war eigentlich nicht so, dass zu viel hineingetan worden war - eher so, dass alles andere, was hineingehörte, fehlte.« Coleman spricht offen mit Ellie und ist erleichtert. Er ist zwar kein Held mehr, aber auch keineswegs ein Schurke. Ja, diese Frau ist eine Kandidatin. Ihr Übergang in die Unabhängigkeit, ihre Verwandlung in eine Village-Bewohnerin, die Art, wie sie mit ihrer Familie umgeht - sie scheint so erwachsen geworden zu sein, wie man erwachsen werden soll.
Eines Abends geht sie mit ihm in ein winziges Juweliergeschäft in der Bleecker Street, wo der weiße Besitzer wunderschönen selbst hergestellten Emailleschmuck verkauft. Sie machen bloß einen Bummel, sehen sich bloß ein bisschen um, doch als sie den Laden wieder verlassen haben, sagt sie zu Coleman, dass der Besitzer ein Schwarzer ist. »Du irrst dich«, sagt Coleman. »Das kann nicht sein.« »Erzähl mir nicht, dass ich mich irre«, sagt sie und lacht. » Du bist blind. « An einem anderen Abend führt sie ihn gegen Mitternacht in eine Bar an der Hudson Street, wo Maler sich treffen, um etwas zu trinken. »Siehst du den da, den schicken Burschen da drüben?«, fragt sie leise und nickt in Richtung eines gut aussehenden Weißen, etwa Mitte Zwanzig, der mit allen Frauen an der Bar flirtet. »Der auch«, sagt sie. » Nein «, sagt Coleman, und jetzt ist er derjenige, der lacht. »Du bist in Greenwich Village, Coleman Silk. Das hier sind die zehn freiesten Quadratkilometer in ganz Amerika. Hier gibt es einen in jedem zweiten Block. Du bist so eingebildet, dass du gedacht hast, du wärst der einzige, der auf diese Idee gekommen ist.« Und wenn sie von dreien weiß - und das tut sie, sie ist sich ganz sicher -, dann gibt es noch zehn andere, wenn nicht mehr. »Sie kommen von überall her zur Eighth Street«, sagt sie. »Genau wie du aus dem kleinen East Orange.« »Und«, sagt er, »ich erkenne sie nicht.« Und auch das bringt sie beide zum Lachen. Sie lachen und lachen und lachen, weil er so unmöglich ist und es bei anderen nicht erkennt und weil Ellie seine Führerin ist und sie ihm zeigt.
Anfangs genießt er diese Lösung seines Problems. Er hat sein Geheimnis preisgegeben und fühlt sich wieder wie ein kleiner Junge, wie der Junge, der er war, bevor er das Geheimnis hatte. Wie eine Art Lausebengel. Ellies Natürlichkeit gibt ihm Leichtigkeit und Freude an seiner eigenen Natürlichkeit. Wenn man ein Ritter und Held sein will, muss man gepanzert sein, und was er jetzt erlebt, ist die Lust eines Lebens ohne Panzer. »Sie
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