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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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sind ein Glückspilz«, sagt Ellies Boss zu ihm. »Ein Glückspilz«, wiederholt er, und das meint er ernst. Bei Ellie braucht er sein Geheimnis nicht mehr. Nicht nur, dass er ihr alles erzählen kann und es auch tut - er kann jetzt auch wieder nach Hause, wenn er will. Er kann seinem Bruder gegenübertreten, und das hätte er, wie er weiß, sonst nicht gekonnt. Seine Mutter und er können einander wieder so nahe, so vertraut sein wie früher. Und dann lernt er Iris kennen, und die Sache ist gelaufen. Mit Ellie hat es Spaß gemacht, und es macht auch weiterhin Spaß, aber es fehlt eine bestimmte Dimension. Es fehlt der Ehrgeiz: Diese Beziehung nährt nicht die Vorstellung von sich selbst, die ihn sein Leben lang getrieben hat. Und dann kommt Iris, und er steht wieder im Ring. Sein Vater hat zu ihm gesagt: »Dann kannst du also ungeschlagen abtreten. Du kannst abtreten.« Und doch tänzelt er kampflustig aus seiner Ecke - er hat wieder sein Geheimnis. Und er besitzt die Gabe, mit diesem Geheimnis umzugehen, und das ist etwas Seltenes. Vielleicht gibt es im Village tatsächlich noch ein Dutzend Leute wie ihn. Aber nicht jeder besitzt diese Gabe. Das heißt, diese anderen besitzen sie wohl, aber in einem geringfügigen, unbedeutenden Maß: Sie lügen einfach die ganze Zeit. Sie gehen mit ihrem Geheimnis nicht so großartig und kunstvoll um wie Coleman. Seine Bahn führt hinaus in die Welt. Sein Geheimnis ist ein Elixier, und das ist so, als würde er eine fremde Sprache perfekt beherrschen, als wäre er an einem Ort, wo immer alles neu ist. Er hat ohne das Geheimnis gelebt, und es hat Spaß gemacht, es ist nichts Schreckliches passiert, es war nicht unangenehm. Es hat Spaß gemacht. Auf eine unschuldige Weise. Aber in jeder anderen Hinsicht war es unzureichend. Gut, er hat seine Unschuld wiedergefunden. Ellie hat sie ihm zurückgegeben. Aber was nützt ihm Unschuld? Iris gibt ihm mehr. Iris hebt alles auf eine andere Ebene. Iris gibt ihm ein Leben in der Größenordnung, in der er es leben will.
    Zwei Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten, beschlossen sie zu heiraten, und das war der Zeitpunkt, an dem er zum ersten Mal einen hohen Preis zu zahlen hatte: für diese Freiheit, die er sich genommen hatte, für die Freizügigkeit, die er erkundet hatte, für die Entscheidungen, die zu treffen er gewagt hatte - und hatte er nicht wirklich ungemein schlau und raffiniert ein spielbares Ich geschaffen, das groß genug war, um seinen Ehrgeiz zu beherbergen, und eindrucksvoll genug, um es mit der ganzen Welt aufzunehmen?
    Coleman fuhr nach East Orange, um seine Mutter zu besuchen. Mrs. Silk wusste nichts von Iris Gittelman, war allerdings auch keineswegs überrascht, als sie erfuhr, dass Coleman heiraten wolle und seine Braut eine Weiße sei. Sie war nicht einmal überrascht, als er ihr sagte, seine Braut wisse nicht, dass er ein Farbiger sei. Wenn jemand überrascht war, dann Coleman, der sich, nachdem er seine Absichten bekannt gegeben hatte, mit einmal fragte, ob seine ganze Entscheidung, die größte seines Lebens, nicht vielleicht auf der lachhaftesten Sache basierte, die man sich nur vorstellen konnte: auf Iris' Haar, diesem wirren Dickicht, das weit negroider war als Colemans und mehr Ähnlichkeit mit Ernestines Haar hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, dass Ernestine als kleines Mädchen oft gefragt hatte: »Warum hab ich kein Windhaar wie Mommy?« - womit sie gemeint hatte, warum ihr Haar nicht im Wind wehte wie das ihrer Mutter und aller anderen Frauen auf der mütterlichen Seite der Familie.
    Angesichts des Schmerzes seiner Mutter beschlich Coleman die unheimliche, verrückte Angst, er wolle von Iris Gittelman vielleicht nichts weiter als die Erklärung, die ihr Aussehen für die Beschaffenheit der Haare ihrer gemeinsamen Kinder liefern würde.
    Doch wie hatte ein so schlichtes, so schwindelerregend nutzenorientiertes Motiv wie dieses seiner Aufmerksamkeit bisher entgehen können? Weil es in keiner Weise der Wahrheit entsprach? Nun, da er seine Mutter leiden sah, da er von seinem Verhalten innerlich erschüttert und doch, wie immer, entschlossen war, die Sache bis zum Ende durchzustehen - wie konnte dieser verblüffende Einfall etwas anderes als die Wahrheit sein? Er saß mit scheinbar vollkommener Selbstbeherrschung seiner Mutter gegenüber und hatte das deutliche Gefühl, dass er sich seine zukünftige Frau aus dem dümmsten denkbaren Grund ausgesucht hatte und dass er der dümmste Mann der Welt war.
    »Und

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