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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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sie glaubt, dass deine Eltern tot sind, Coleman. Das hast du ihr erzählt.«
    »Ja.«
    »Du hast keinen Bruder, du hast keine Schwester. Es gibt keine Ernestine. Es gibt keinen Walt.«
    Er nickte.
    »Und? Was hast du ihr außerdem noch erzählt?«
    »Was glaubst du?«
    »Was immer dir gepasst hat.« Das war die gröbste Bemerkung, die sie an diesem Nachmittag machte. Sie war nie imstande gewesen, ihre Wut gegen ihn zu richten, und würde es auch nie sein. Vom Augenblick seiner Geburt an erzeugte sein bloßer Anblick Gefühle in ihr, gegen die sie sich nicht wehren konnte und die nichts damit zu tun hatten, ob er dieser Gefühle würdig war. »Ich werde meine Enkelkinder nie kennenlernen«, sagte sie.
    Er war vorbereitet. Das Wichtigste war, Iris' Haar zu vergessen und sie reden zu lassen, sie ihren Fluss finden zu lassen, und aus dem sanften Dahinströmen ihrer Worte seine eigene Verteidigung zu konstruieren.
    »Du wirst ihnen nie erlauben, mich zu besuchen«, sagte sie. »Du wirst ihnen nie sagen, wer ich bin. ‹Mom‹, wirst du sagen, ‹Ma, komm zum Bahnhof in New York und setz dich in den Wartesaal, und um fünf vor halb zwölf werde ich mit den Kindern in ihren Sonntagskleidern Vorbeigehen. ‹ Das wird in fünf Jahren mein Geburtstagsgeschenk sein. ‹Sitz einfach da, Mom, und sag nichts - ich werde mit ihnen langsam vorbeigehen.‹ Und du weißt, dass ich da sein werde. Im Bahnhof. Im Zoo. Im Central Park. Ganz gleich, wohin ich kommen soll - ich werde da sein. Wenn du mir sagst, dass ich meine Enkelkinder nur in die Arme nehmen kann, wenn ich als Mrs. Brown, die Babysitterin, komme, um sie ins Bett zu bringen, werde ich das tun. Und wenn du mir sagst, dass ich als Mrs. Brown kommen und euer Haus putzen soll, werde ich das auch tun. Ich werde tun, was du mir sagst. Ich habe keine andere Wahl.«
    »Hast du nicht?«
    »Eine Wahl? Welche Wahl habe ich, Coleman?«
    »Du könntest mich enterben.«
    Beinahe spöttisch tat sie, als dächte sie darüber nach. »Ja, ich glaube, ich könnte so grausam zu dir sein. Ja, das könnte ich vielleicht. Aber woher soll ich deiner Meinung nach die Kraft nehmen, so grausam zu mir selbst zu sein?«
    Es war nicht der richtige Augenblick, sich an seine Kindheit zu erinnern. Es war nicht der richtige Augenblick, ihre Klarheit oder ihren Sarkasmus oder ihren Mut zu bewundern. Es war nicht der richtige Augenblick, sich von jenem geradezu pathologischen Phänomen namens Mutterliebe bezwingen zu lassen. Es war nicht der richtige Augenblick, all die Worte zu hören, die sie nicht sagte, die aber vernehmbarer im Raum standen als alle, die sie aussprach. Es war nicht der richtige Augenblick, andere Gedanken zu denken als die, mit denen er sich gewappnet hatte, bevor er gekommen war. Und es war gewiss nicht der richtige Augenblick, zu Erklärungen Zuflucht zu nehmen, die Vor- und Nachteile brillant darzulegen und so zu tun, als handle es sich lediglich um eine logische Entscheidung. Der Grausamkeit, die er ihr antat, konnte keine Erklärung auch nur ansatzweise gerecht werden. Es war ein Augenblick, in dem er sich ganz und gar auf das konzentrieren musste, was er hier erreichen wollte. Wenn es für seine Mutter von vornherein ausgeschlossen war, ihn zu enterben, blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen Schlag hinzunehmen. Es kam jetzt darauf an, mit ruhiger Stimme wenig zu sagen, nicht an Iris' Haar zu denken und seine Mutter solange wie nötig sprechen zu lassen, damit ihre Worte die Brutalität des Brutalsten, was er ihr je angetan hatte, milderten.
    Er war dabei, sie zu ermorden. Seinen Vater braucht man nicht zu ermorden. Das nimmt einem schon die Welt ab. Es gibt jede Menge Mächte, die darauf aus sind, den Vater zu erledigen. Die Welt erledigt den Vater, wie sie es in Mr. Silks Fall ja auch getan hatte. Die Mutter ist es, die man ermorden muss, und er erkannte, dass er dabei war, ebendies zu tun - der Junge, der von seiner Mutter so geliebt worden war, wie man nur geliebt werden kann. Er ermordete sie um seiner begeisternden Vorstellung von Freiheit willen! Ohne seine Mutter wäre alles viel leichter gewesen. Doch nur wenn er diese Prüfung besteht, kann er der Mann sein, der zu sein er beschlossen hat, der das, was ihm durch seine Herkunft auferlegt worden ist, ein für alle Mal hinter sich gelassen hat, der frei ist, um seine Freiheit zu kämpfen, wie jeder Mensch, der frei sein will - Um dem Leben dies abzuringen - ein anderes, von ihm selbst bestimmtes Schicksal -, muss er tun,

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