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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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was getan werden muss. Wollen nicht die meisten Menschen das beschissene Leben, das ihnen auferlegt ist, einfach hinter sich lassen? Aber sie tun es nicht, und dadurch, dass sie es nicht tun, sind sie sie, während er dadurch, dass er es tut, er selbst ist. Schlag zu, tu ihr weh und verriegle die Tür für alle Zeit. Du kannst das alles nicht einer wunderbaren Mutter antun, die dich bedingungslos liebt und dich glücklich gemacht hat, du kannst ihr nicht diesen Schmerz zufügen und dann glauben, du könntest es wiedergutmachen. Das hier ist so schrecklich, dass du bestenfalls irgendwie damit leben kannst. Wenn du so etwas getan hast, dann hast du einen Akt der Gewalt begangen, den du niemals wirst wiedergutmachen können - und das ist genau das, was Coleman will. Es ist wie damals in West Point, als der andere zu Boden gegangen ist und ihn nur der Ringrichter vor dem bewahrt hat, wozu Coleman imstande war. Heute wie damals spürt er als Kämpfer, wozu er imstande ist. Denn auch das gehört zu dieser Prüfung: dass er der Brutalität der Zurückweisung ihre tatsächliche, unverzeihliche menschliche Bedeutung verleiht und sich mit möglichst großer Sachlichkeit und Klarheit dem Augenblick stellt, in dem sein Schicksal etwas Riesengroßes kreuzt. Dieser Augenblick gehört ihm. Dieser Mann und seine Mutter. Diese Frau und ihr geliebter Sohn. Wenn er, um sich zu stählen, darauf aus ist, das Schwerste zu tun, was man sich nur vorstellen kann, dann ist es dies - schlimmer könnte nur sein, ihr tatsächlich ein Messer in die Brust zu stoßen. Es bringt ihn zum Kern der Sache. Dies ist die große Tat in seinem Leben, und er spürt deutlich und bewusst, wie gewaltig sie ist.
    »Ich weiß nicht, warum ich darauf nicht besser vorbereitet bin, Coleman«, sagt sie. »Ich sollte es eigentlich sein. Seit du auf der Welt bist, hast du mich davor gewarnt. Du hattest eine große Abneigung dagegen, gestillt zu werden. Doch, das stimmt. Jetzt verstehe ich, warum. Selbst das hätte deine Flucht vielleicht verzögert. An unserer Familie war immer etwas - und damit meine ich nicht die Hautfarbe -, das dich behindert hat. Du denkst wie ein Gefangener. Doch, das tust du, Coleman Brutus. Du bist weiß wie Schnee, aber du denkst wie ein Sklave.«
    Es war nicht der richtige Augenblick, um ihrer Intelligenz Glauben zu schenken und so hübsch formulierte Sätze wie diesen als Ausdruck einer besonderen Weisheit zu betrachten. Es geschah oft, dass seine Mutter etwas sagte, was ihr den Anschein gab, als wisse sie mehr, als tatsächlich der Fall war. Die rationale andere Seite. Das kam davon, dass sie die großen Reden seinem Vater überlassen und dadurch den Eindruck erweckt hatte, sie sei diejenige, die sagte, worauf es ankam.
    »Ich könnte dir jetzt sagen, dass es kein Entkommen gibt, dass all deine Versuche zu entkommen dich nur dorthin führen werden, wo du angefangen hast. Das wäre jedenfalls das, was dein Vater gesagt hätte. Und er hätte irgend etwas Passendes aus Julius Cäsar zitiert. Aber ein junger Mann wie du, dem alle Welt zu Füßen liegt? Ein gut aussehender, charmanter, intelligenter junger Mann mit deiner Statur, deiner Entschlossenheit, deiner Klugheit, mit all deinen wunderbaren Begabungen? Du mit deinen grünen Augen und deinen langen, dunklen Wimpern? Ach, das sollte dir wirklich keine Mühe bereiten. Ich nehme an, dieser Besuch bei mir ist so schwer wie nur irgendwas, aber sieh dir an, wie ruhig du dasitzt. Und zwar, weil du weißt, dass das, was du tust, sehr sinnvoll ist. Ich weiß, dass es sinnvoll ist, denn du würdest niemals ein Ziel verfolgen, dass nicht sinnvoll ist. Natürlich wirst du auf Enttäuschungen stoßen. Natürlich wird nur wenig so sein, wie du es dir jetzt, wenn du mir so ruhig gegenübersitzt, ausmalst. Dein besonderes Schicksal wird wirklich besonders sein, aber auf welche Weise? Du bist sechsundzwanzig, du kannst es nicht mal ansatzweise wissen. Aber wäre es nicht genauso, wenn du nichts tätest? Ich nehme an, zu jeder tief greifenden Veränderung im Leben gehört, dass man zu jemandem ‹Ich kenne dich nicht‹ sagt.«
    Sie sprach beinahe zwei Stunden lang. Es war eine lange Rede, in der sie seine Autonomie bis zurück in seine frühe Kindheit verfolgte und den Schmerz gekonnt in sich aufnahm, indem sie all die Dinge aufzählte, denen sie sich hier gegenübersah, denen sie keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen konnte und die sie würde ertragen müssen, und die ganze Zeit gab sich Coleman

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