Der menschliche Makel
Seminaren des Seniorenprogramms gefunden hatten. Alle trugen adrette, leichte Sommerkleidung: viele Hemden und Blusen in leuchtenden Pastelltönen, weiße oder helle kakifarbene Hosen, hier und da sommerliche Karomuster von Brooks Brothers. Die meisten Männer hatten Schirmmützen aufgesetzt, Mützen in allen möglichen Farben, viele bestickt mit den Logos von Profimannschaften. Keine Rollstühle, keine Gehhilfen, keine Krücken oder Gehstöcke, soweit er sehen konnte. Rüstige Leute seines Alters, anscheinend nicht weniger gesund als er selbst; manche waren etwas jünger, manche offensichtlich älter, doch alle erfreuten sich der Freiheiten, die das Rentenalter für jene bereithielt, welche das Glück hatten, mehr oder weniger frei atmen, mehr oder weniger schmerzfrei gehen, mehr oder weniger klar denken zu können. Eigentlich hätte er hierhergehört. Mit einer angemessenen Partnerin versehen. Anständig.
Anständig. Das aktuelle Codewort, mit dem praktisch jede Abweichung vom Pfad der Schicklichkeit verhindert wurde, damit alle sich »wohlfühlen« konnten. Er sollte nicht das tun, was man glaubte, dass er tat, sondern das, was Gott weiß welchen Moralphilosophen passend erschien. Barbara Walters? Joyce Brothers? William Bennett? Dateline NBC ? Wenn er hier noch Professor gewesen wäre, hätte er ein Seminar zum Thema »Angemessenes Verhalten im klassischen griechischen Drama« veranstalten können, ein Seminar, das beendet gewesen wäre, bevor es überhaupt begonnen hätte.
Sie waren unterwegs zum Mittagessen und gingen in Sichtweite der North Hall vorbei, des efeuüberwachsenen, wunderschön gealterten Ziegelbaus aus Kolonialzeiten, in dem Coleman Silk als Dekan der Fakultät mehr als zehn Jahre lang ein Büro gegenüber der Suite des Rektors gehabt hatte. Vom architektonischen Wahrzeichen des Colleges, dem sechseckigen Uhrenturm der North Hall, den ein Spitzdach mit aufgezogener Fahne krönte und der von der Ortschaft Athena aus so gut zu sehen war wie eine mächtige europäische Kathedrale für diejenigen, die sich ihr auf der Landstraße nähern, schlug es zwölf, als Coleman sich auf eine Bank im Schatten der berühmtesten altersknorrigen Eiche des Gevierts setzte und versuchte, in Ruhe über die Zwänge der Schicklichkeit nachzudenken. Über die Tyrannei der Schicklichkeit. Mitte des Jahres 1998 fiel es selbst ihm schwer, an die Ausdauer amerikanischer Schicklichkeit zu glauben, und er war doch immerhin derjenige, der sich von ihr tyrannisiert fühlte: Die Zügel, dachte er, die sie noch immer der öffentlichen Rede anlegt, die Inspiration, die sie der verlogenen Selbstdarstellung liefert, die Beharrlichkeit, mit der sie allenthalben ihre kastrierende Tugendhaftigkeit vor sich her trägt, eine Tugendhaftigkeit, die H. L. Mencken mit bloßer Idiotie gleichgesetzt hat, die für Philip Wylie ein Ausdruck ödipaler Mutterfixierung war, die von Europäern gänzlich unhistorisch als Puritanismus bezeichnet wird, die ein Ronald Reagan und seinesgleichen als einen der amerikanischen Grundwerte betrachten und die nach wie vor weitreichende Geltung besitzt, weil sie sich als etwas anderes maskiert - als alles andere. Schicklichkeit ist eine vielgestaltige Kraft, eine Domina in tausend Verkleidungen, die den Geist, wenn es sein muss, in Form eines Eintretens für staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl, für die weiße, angelsächsisch-protestantische Würde, für die Rechte der Frauen oder den Stolz der Schwarzen, für das Bewusstsein der ethnischen Zugehörigkeit oder die emotionsgeladene ethische Empfindsamkeit der Juden infiltriert. Es ist nicht nur so, als hätte es Marx, Freud, Darwin, Stalin, Hitler oder Mao nie gegeben - es ist, als hätte es Sinclair Lewis nie gegeben. Es ist, dachte Coleman, als wäre Babbitt nie geschrieben worden. Es ist, als wären jene kreativen Gedanken nicht einmal auf unterster Ebene ins Bewusstsein eingelassen worden, um irgendwelche Störungen zu erzeugen, und seien sie noch so klein. Ein Jahrhundert einer in diesem Umfang nie da gewesenen Zerstörung ist über die menschliche Rasse gekommen - viele Millionen ganz normaler Menschen sind verdammt, Entbehrungen über Entbehrungen, Grausamkeiten über Grausamkeiten, Unheil über Unheil zu erdulden, die halbe Menschheit oder mehr ist einem als Gesellschaftspolitik getarnten pathologischen Sadismus ausgeliefert, ganze Gemeinwesen sind durch die Angst vor gewaltsamer Verfolgung organisiert und eingeengt, die Entwürdigung des
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