Der Metzger bricht das Eis
wüsste sie um die Sinnlosigkeit dieses Hilferufs. Dann taucht sie mit wehendem Haar am unteren Rand des Fensters ab. Dröhnend und dumpf zugleich hallt der Aufprall durch den Innenhof.
Schwester Gabi allerdings gibt sich nicht mit der Erkenntnis zufrieden, ein Schrei wäre vergebens. Und da staunt er jetzt nicht schlecht, der Willibald, zu welcher Urgewalt so eine zarte Stimme imstande ist. Vorbei ist es mit der Ruhe auf Station E und wenig später auch im OP . Denn dort, wo zuerst die tigergemusterte Handtasche mit sanften Pfoten gelandet war, als Katze auf dem weißen Blechdach, hat auch Maria Kaufmann ihren Abdruck im Schnee hinterlassen. Dank der unwiderstehlichen Herausforderung, die so ein regungsloser zertrümmerter Körper für den chirurgischen Ehrgeiz darstellt, wird dieser Abdruck, da können die Krähen noch so munter ihre Kreise ziehen, nicht ihr letzter sein.
Ähnlich wie im Hochsommer am Sprungturm tummeln sich nun also im Erdgeschoss die medizinischen Kunstspringer. In den luftigen Höhen dieses Hauses aber herrscht die Stille und Einsamkeit einer idyllischen Winterlandschaft. Dennoch, wie er sich da an die Brüstung der Dachterrasse gelehnt so vorbeugt, der Willibald, kommt ihm dann doch der Gedanke: Ein wenig nach Sprungturm und Strecksprung vorwärts sieht es von hier heroben schon aus.
Was seine Möbel angeht, ist der Metzger ja ein Meisteranalytiker, ansonsten aber liegt ihm das Spurenlesen nicht unbedingt im Blut. Viel Phantasie gehört allerdings nicht dazu, um die Lektüre im Schnee entsprechend entziffern zu können. Eine Raucherterrasse in einem Kinderspital ist ja erwartungsgemäß nicht unbedingt ein Ort regen Treibens, und den Fußabdrücken nach zu urteilen, erfolgt in diesem Haus die Tabakverbrennung entweder verbotenerweise in diversen überheizten Innenräumen, oder es gibt nur zwei Nikotinkonsumenten. Die größere der beiden Fußspuren führt vom Eingang zum Geländer und wieder zurück, die kleinere führt ebenfalls vor bis zur Brüstung, direkt neben die andere Spur, für den Retourweg allerdings wurde eine andere Route genommen.
Das könnte rückblickend nun bedeuten: Zwei Menschen standen nebeneinander vor dem Abgrund. Vielleicht hat sich Maria Kaufmann vor ihrem Fall noch gefällig unterhalten, nach Kraftakt oder Tumult sehen die beiden Abdrücke nämlich nicht aus.
Seltsam findet er das, der Metzger. Ein kumpelhafter Schlag auf den Rücken reicht wohl nicht aus, um einen menschlichen Körper gegen seinen Willen über ein Geländer in die Tiefe zu befördern. Irgendetwas Sonderbares war da in Maria Kaufmanns Blick, etwas Abwesendes, etwas sich völlig dem Schicksal Ergebendes. Ist Maria Kaufmann also tatsächlich freiwillig gesprungen? Hat sie ihr: »Ich geh nur schnell auf ein Sprüngerl hinauf …« wörtlich gemeint? Warum steigt sie zu diesem Zweck nicht bei sich zu Hause aufs Dach, sondern fährt ins Spital?
Warum kündigt sie extra an, rauchen gehen zu wollen, und wartet nicht einfach, bis jeder Besuch weg und sie allein ist?
Hat sie zunächst also gar nicht vorgehabt zu springen, sondern zur Motivation dieses selbstmörderischen Aktes erst auf der Terrasse etwas zu hören oder zu sehen bekommen? Welche Botschaft kann so bedrohlich, so fürchterlich sein, dass eine Mutter aus freiem Willen in den Tod stürzt?
Ein bisschen zu viele Fragen vielleicht, um allein die Antworten zu finden, sieht der Metzger ein und tut, was zu tun ist.
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Das waren noch Zeiten, wo sich schon allein die Inbetriebnahme eines derartig schweren Geräts zur Dokumentation kraftstrotzender Männlichkeit eignete: Lederjacke zu, Helm auf, Standbein einklappen, Schwergewicht leicht zur Seite neigen und Kickstarter durchtreten.
Heutzutage kann sich jeder Schwachmatiker auf eine Fünfzehnhunderter setzen, den Schlüssel drehen, den Startknopf drücken und sich während der erstbesten Kurve in einem Hydranten verewigen. Natürlich schützt auch ein Kickstarter vor Friedhofslichtchen unter Leitplanken, Leitungsmasten, Laternen oder Laubbäumen nicht, und weil er das weiß, der Toni Schuster, dreht er den Zündschlüssel niemals, ohne ihn zuvor übergestreift zu haben, seinen schwarz-gelben Lederoverall mit integrierten Protektoren, eingespritzten Titanschultern und aerodynamischem Aufprallschutz, selbst im Hochsommer. Einziger Wermutstropfen: Unterwegs ist es nicht dabei, sein verborgen in einem Lederetui stets am Gürtel getragenes, stets einsatzbereites und stets topgepfleges
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