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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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datiert sind, ein Abschiedsbrief, den Sascha im Zimmer seines Vaters gefunden hat, der aber nicht an ihn, sondern einen Xaver gerichtet war, und dazu diese Angst einflößende Familiengeschichte, die gestern Abend von Sascha geschildert und körperlich drastisch demonstriert wurde. Der Metzger weiß, er sollte eigentlich ablehnen, aber neben dem Geschäftssinn ist sein Orientierungs- und Ordnungssinn erwacht. Er hasst es, in ein Labyrinth zu geraten und nicht wieder herauszufinden, auch aus einem gedanklichen, und er kommt mit Unaufgeräumtheit ganz schlecht zurecht, auch der zwischen Menschen.
    Zudem wird das organisatorische Problem gelöst: »Ich bring Sie auch wieder hierher zurück!«
    »Das ist doch eine unnötige Herumfahrerei.«
    »Ich fahr gerne, und ich will ja was von Ihnen«, entgegnet Sascha Friedmann und meint damit viel mehr, als der Metzger zu denken wagt.
    Eine halbe Stunde später sitzt er im Wagen, nicht ahnend, wohin ihn diese Reise führen wird. Zügig geht es dahin, durch beschauliche Ortschaften, lang gezogene Waldstücke, vorbei an Bauernhöfen und üppigen Getreidefeldern. Der Metzger hört von dem einen oder anderen handwerklichen Friedmann-Hilfseinsatz, über die viele Arbeit nach den extrem im Aufwind befindlichen Sturmschäden, erzählt selbst was vom Möbelrestaurieren und fühlt sich wohl in der Gegenwart des gesprächig gewordenen jungen Mannes. Die Zeit vergeht wie im Flug, zwischendurch wird vollgetankt, und während die lang gezogenen Waldstücke immer dichter werden, wird die Besiedelung immer dünner.
    Sascha Friedmann hat bisher ruhig seinen Wagen gelenkt und beinah fröhlich vor sich hin geplaudert. Im Vergleich dazu klingt seine Reisezielankündigung auffällig gedrückt: »Da vorne beginnt unser Ort!«
    Am Ortsschild vorbei führt die Straße auf einen ausgestorbenen, architektonisch belanglosen kleinen Marktplatz, an dessen Ende, wie ein architektonischer Fremdkörper, eine wunderschöne renovierungsbedürftige Barockkirche mit Zwiebelturm steht. Sehr langsam, beinah andächtig, fährt Sascha Friedmann daran vorbei.
    Es herrscht Totenstille.
    Dann zerreißt ein lautes Knarren die Geräuschlosigkeit. Als wäre es genau so vorgesehen, als hätte es heimtückisch auf die Ankunft des blauen Kastenwagens gewartet, öffnet sich das große Holztor, und das Gebäude entlässt seine Insassen. Sascha Friedmann flüstert: »Mist!«, hält am Straßenrand und schweigt. Wie eine zähe Flüssigkeit bewegen sich die dunkel gekleideten Menschen über den Kieselsteinweg. Kaum ein lauter Ton mischt sich ins Knirschen der Schritte, und dem Metzger kommt es vor, als würden die Menschen ihre Andächtigkeit in kleinen Laternen wachsam vor sich hertragen, in der Hoffnung, dass sie diesmal bis nach Hause flackert.
    »Ein Begräbnis?«, fragt er.
    Sascha Friedmann starrt wie versteinert geradeaus: »Nein, so ist es immer, wenn Pfarrer Bichler die Schlussworte als zweite Predigt genutzt hat!«
    Einige Personen schauen zum Wagen herüber, von dem vermutlich jeder der Ansässigen weiß, wem er gehört, und keine Hand, wie es für gewöhnlich in ländlichen Regionen üblich ist, hebt sich zum Gruß.
    Eine kleine Gruppe bleibt vor der Kirche stehen und plaudert, dann kommt er.
    Oder besser gesagt: Er erscheint.
    Die kleine Gruppe teilt sich, ein leichtes Verbeugen ist zu erkennen, es werden Hände geschüttelt, es wird auf die Schulter geklopft, dann hebt sich doch eine Hand. Seine.
    Mit langsamen Schritten kommt er zum Auto herüber, andächtig umfassen sich seine Hände, von der schwarzen Kutte baumelt unübersehbar ein großes silbernes Kreuz. Süßlich lächelnd schaut er durchs offene Seitenfenster: »Der Herr sei mit euch!«
    »Hallo«, antwortet Sascha, »Grüß Gott!« der Metzger.
    »Ja, Gott grüßt alle seine Kinder! Besonders jene, die am Sonntag zu ihm kommen, um ihn zu würdigen, nicht wahr, Sascha?«
    Der Pfarrer lächelt zwar weiterhin, aber seine Augen, die sprechen eine andere Sprache. Dann reicht er einen grünen kopierten Zettel durchs Fenster ins Wageninnere: »Bitte schön, hier das Pfarrblatt für die kommende Woche!«
    Zu Sascha Friedmann gewandt fügt er hinzu: »Und dir, mein Sohn, mein aufrichtiges Beileid zum Tod deines Vaters. Wir haben gerade für ihn gebetet.«
    Einmal mehr wundert sich der Metzger, warum so mancher Priester trotz des vereinbarten Zölibats seine Kunden – wie ja jeder Mensch zu bezeichnen ist, der für eine Dienstleistung bezahlt – als Söhne und

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