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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Tisch, das wichtigste Möbelstück der Biedermeierzeit, um den sich die Familie »im häuslichen Glück« versammeln konnte, ist von so vorzüglicher Machart, der Metzger hat so etwas zuvor noch nie gesehen. Der für den Biedermeierstil typische Helldunkelkontrast wurde in diesem Fall nicht durch Beizen billiger Holzarten erzielt, sondern durch den Einsatz teuren Ebenholzes. Die Mitte der Platte ziert eine Einlegearbeit in Form einer Lyra, deren Form ebenso kunstvoll in die Lehnen der dazugehörigen acht Sessel eingearbeitet ist. Welch perfekte Ergänzung. Nur ist das nicht alles, denn zwischen zwei Stühlen steht die wahre Krönung dieses Ensembles: ein einzigartiger dazupassender Beistelltisch, in seiner Erscheinung von einer entzückenden Zierlichkeit, dass es sofort um den Metzger geschehen ist.
    Es ist Liebe auf den ersten Blick.
    Der Metzger streicht behutsam über die Tischplatte, die von leichten Rissen durchzogen ist. Die Polsterung der Sessel muss komplett erneuert werden, aber sonst ist in Anbetracht der Lagerung alles recht gut erhalten.
    »Und, was sagen Sie?«
    Jetzt ist der Willibald natürlich im Grunde eine ehrliche Haut. Er ist aber auch Geschäftsmann und folglich mit einer berufsbedingten Vorsicht ausgestattet, die seine Aufrichtigkeit gelegentlich durch ein gesundes Maß an Verschwiegenheit in die Schranken weist.
    Und weil der Metzger weiß, dass enthusiastische Übermutsäußerungen in Gegenwart eines möglichen Geschenks den Wohltäter dazu verleiten könnten, seine Absicht zu überdenken, meint er: »Na ja, wenn Sie das unbedingt loswerden wollen, nehm ich es. Ideal gelagert war das ja alles nicht unbedingt. Das ist den Materialien auch deutlich anzusehen!« Der Metzger zupft am zerfetzten Sesselbezug. »Wo haben Sie das eigentlich her?«
    »Das gehörte meinem Vater. Steht seit Jahren hier, und mein Großvater will es raushaben.«
    Dann wird Sascha Friedmann abrupt leise. Aus dem Erdgeschoss sind zuerst Stimmen zu hören, dann ein Ruf: »Alexander?«
    Sascha Friedmann schweigt. Es scheint, als hielte er den Atem an.
    »Alexander? Bist du da?«
    »Ja!«
    Dann rauchen bei beiden die Köpfe. Während der Metzger über die belanglose Frage nachdenkt, was jemanden dazu veranlassen könnte, freiwillig ein elegantes griechisches Alexander zu einem bescheidenen russischen Sascha zu degradieren, geht es bei Sascha Friedmann um weitaus ernstere Angelegenheiten.
    Mit angespannter Miene fasst er dem Willibald freundschaftlich auf die Schulter, erteilt die Weisung: »Warten Sie einfach hier!« und läuft die Stiegen hinunter.
    Froh ist der Metzger jetzt für die Zeit, die er kurz mit der Esszimmergruppe allein verbringen kann. Möbel ausschließlich von oben zu begutachten, das wäre wie ein Gebrauchtwagenkauf ohne Blick in den Motorraum oder auf den Unterboden. Während der Restaurator vorsichtig unter den Tisch klettert, setzen im Erdgeschoss wieder Stimmen ein.
    Keine groben Risse sind zu sehen, auch die Lade liegt nicht verzogen in der Führung. Mühelos lässt sie sich nach vorn schieben. Öffnet man eine Lade, sieht man von oben ihr Inneres und von unten die freigelegte Unterseite der Tischplatte. Wobei im Fall dieses Tisches von freigelegt nicht die Rede sein kann.
    An seinen Längsseiten ist ein DIN-A4-Karton mehrfach an das Holz getackert. Und während im Erdgeschoss die Stimmen deutlich lauter werden, steckt Willibald Adrian Metzger vorsichtig seine Finger zwischen Tischplatte und Karton.
    Immer wieder sind Fragmente der Unterhaltung zu verstehen: »Mach das nie wieder!« – »Sei bloß ehrlich, du verschlagener Falott!« – »Wen hast du da mitgebracht?«
    Der Metzger ist mit seiner Geistesgegenwart allerdings anderwärtig gebunden, und er ist ein Mann, was bedeutet, dass seine Aufnahmefähigkeit durch die bereits praktizierte eindimensionale Konzentration völlig ausgelastet ist.
    Mit den Fingerkuppen spürt er zwei scharfe Ränder, was auf Papier oder ähnliches Material hindeutet. Sosehr er sich jedoch bemüht, ohne Werkzeug oder ohne den Karton herunterzureißen, ist aus dem Versteck nichts herauszubekommen. Zumindest von vorn nicht! Denn durch das Hineinschieben der Finger hat sich auch im Inneren des engen Faches etwas verschoben und fällt nun aus der Hinterseite in die Lade hinein.
    Dann läutet sein Handy. Im Erdgeschoss wird es schlagartig ruhig.
    »Hab ich gerade Pause, ist herrlich!«
    Leicht ist es nicht, auf allen vieren möglichst entspannt zu wirken: »Das freut mich

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