Der Metzger geht fremd
ihn schon mal gesehen, diesen Opel-Kadett-Schrottkübel mit rückwärtigem Kunststoffbauteil, der von Kommissar Eduard Pospischill, Willibalds momentan etwas in Vergessenheit geratenem Polizistenfreund, so charmant als Proletenflügel bezeichnet wird. Vor der Kuranstalt hat er gestanden, vorgestern. Und jetzt steht er hier, am Hirzinger-Hof, wobei nicht sicher ist, ob Adam Opel beim Anblick dieses Gefährts eine rechte Freude daran gehabt hätte, was nach 1862 aus seiner Nähmaschine so geworden ist.
Willibald Adrian Metzger muss ein paar schnelle Schritte einlegen, um nicht allein in diesem trostlosen Innenhof zurückzubleiben. Im Inneren des Bauernhauses wird es dann allerdings nicht wirklich gemütlicher. Sascha Friedmann führt seinen Besucher durch ein muffiges, liebloses Stiegenhaus. Kein Bild hängt an der Wand, keine Pflanze steht in der Ecke, lose Glühbirnen dienen als Deckenbeleuchtung, und der Metzger kann sich kaum vorstellen, dass hier jener Mann gelebt haben soll, dem Danjela Djurkovic so viel Ordnungssinn attestiert.
Hier ist nichts heimelig, nichts einladend, und nichts strahlt Wärme aus. Nach Überwindung des ersten Stockwerks geht es hinauf zum Dachboden.
Sascha Friedmann öffnet die Tür. Durch die Ziegelritzen dringt ein wenig Sonne in den unbeleuchteten Raum. Die vom Luftzug aufgewirbelten Staubkörner tanzen durch die unregelmäßigen Strahlen, und es dauert, bis sich der Metzger in diesen Lichtverhältnissen zurechtfindet.
Dann sieht er sie.
33
E R MUSS IN DIE Offensive gehen. Auf Winfrieds Mithilfe kann er sich nicht mehr verlassen. Seiner Bitte, kurz im Zimmer 3.12 nachzusehen, ob sein Vater irgendetwas Bedeutsames zurückgelassen habe, ein Schreiben oder einen Hinweis, konnte sein treuer Freund in Anbetracht der unerwarteten Besucherin nur eingeschränkt nachkommen. Obwohl diese Djurkovic ja durchaus auch als Fund zu bezeichnen ist, denn allein ihre Anwesenheit im Zimmer zeigt im Nachhinein, dass es im Vorfeld Umstände gegeben haben musste, die ihr verdächtig vorkamen.
Er muss wissen, was das ist, ebenso, was in diesem Briefentwurf an einen Sohn, wen auch immer sein Vater damit erreichen wollte, zu lesen steht. Er muss Zugang finden zu allem, was ihm womöglich nie gesagt wurde. Er muss wissen, was dieser Satz bedeutet, der ihm nicht mehr aus dem Kopf geht: »Du bist auch hier, um dich selbst kennenzulernen!«
Er muss es wissen.
Die Entbehrung dessen, was ein Einzelner seinen Mitmenschen vorenthält, kann ganze Generationen in die Irre führen. Wer seine Sprache beherrscht, wer es versteht, mit ihr zu spielen, beherrscht die Seinen und spielt mit ihrem Verstehen. Sprache verbindet die Augen vor all dem, was hinter den Worten verborgen liegt. Nicht im Gesagten liegt ihre große Macht, sondern im Nichtgesagten, in dem, was im Dunkeln bleibt, unter dem Mantel der Verschwiegenheit. Und während der Mensch schwatzend herumpoltert, sich Angst einflößend aufplustert, die Kleinen klein hält, die Großen schrumpfen lässt, kriecht er wortkarg, mit unaussprechbaren Wahrheiten um den Bauch geschnallt, durchs Dickicht seiner Selbstverleugnung.
Müde betritt er seine Wohnung. Er braucht eine kurze Pause und die Frau bei ihm zu Hause etwas zu essen. Außerdem gehören die Verbände gewechselt. Bis jetzt hat sie nur geschwiegen und ihn angesehen, mit diesem vertrauten, friedlichen Blick.
»Bin wieder da!«, grüßt er aus dem Vorraum. Wahrscheinlich schläft sie. Was für eine unglaubliche Ruhe von einem Menschen ausgeht, dem das Schicksal die Sprache genommen hat! Hinter den Worten liegt das wahre Ich und spricht aus den Augen.
Er richtet ihr eine Mahlzeit und betritt den Raum, in der Hand ein Tablett. Sie muss sich erholen.
Das Zimmer ist leer.
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D IE B EINE KRUMM mit schlanken Fesseln, in der typischen, dem Alter entsprechenden Schwingung. Der Rest ist herzlos verhüllt.
»Allein diese Beine sind vielversprechend«, denkt sich der Metzger. Sascha Friedmann zieht die alten Decken herunter, und dem Restaurator springt übermütig das Herz. Vor ihm steht eine komplette Biedermeier-Esszimmergruppe mit einem wunderbaren ovalen Ausziehtisch, dessen Beine jeweils doppelt angelegt sind. Ausgezogen trennen sich diese bündig und eng aneinandergeschmiegten Paare, und es entsteht ein Tisch mit acht Beinen. Mit entsprechenden Einlegeplatten lässt sich dieses Möbelstück auf die dreifache Länge vergrößern und bleibt dennoch absolut stabil. Was für eine phantastische Arbeit! Dieser
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