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Der Meuchelmord

Titel: Der Meuchelmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Evelyn
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versäume sonst meine Maschine.«
    »Da werden Sie nicht die einzige sein«, antwortete der Fahrer mit einem Blick in den Rückspiegel. Sie wirkte im höchsten Grad aufgeregt. Sie interessierte ihn nicht als Frau, denn Fahrgäste waren für ihn eine ganz besondere Spezies, die ein Stück unterhalb der Menschen rangierte. »Es gibt keinen schnelleren Weg. Oder haben Sie vergessen, daß wir St.-Patricks-Tag haben?«
    »Nein.« Elizabeth ließ sich ins Polster zurücksinken. »Nein, wie könnte ich das vergessen.«
    Vielleicht wurde auch Keller aufgehalten. Er hatte versprochen, das Hotel rechtzeitig zu verlassen und um elf Uhr am Flughafen zu sein. Wie lange würde er wohl auf sie warten? Eine Stunde, zwei Stunden? Ob er noch wie vereinbart vor dem Schalter der East Airlines stand? Nein, ohne sie würde er nicht weggehen. Sicher wußte er, daß sie auf dem Weg zu ihm war und daß ihre Verspätung nur höherer Gewalt zuzuschreiben war. Sie zündete sich eine Zigarette an und erschauderte. Wenn Matthews nicht gekommen wäre, läge sie jetzt tot hinter ihrer zerschossenen Tür. Tot – wie das arabische Mädchen, das sie erdrosselt hatten. Eddi King war verhaftet. Der Mann, der sie erschießen sollte, war selbst einer Kugel zum Opfer gefallen. Onkel Huntley hatte also doch recht behalten: In ihrer Wohnung war sie nicht sicher gewesen, aber dafür drohte hier keine Gefahr – ihr nicht, sondern nur Keller. Matthews hatte ihnen eine Chance gegeben. Aus einem überwältigenden Gefühl der Dankbarkeit heraus mußte sie plötzlich weinen. Aber wenn sie nicht noch an diesem Vormittag zusammen mit Keller Amerika verließ, würde Leary sie ganz bestimmt finden und festhalten. Für diesen Mann galt nichts anderes als seine Pflicht.
    Sie verließen den Franklin D. Roosevelt Drive über die Triborough Bridge, und sie sah erleichtert, daß sie jetzt freie Bahn hatten. Bis zum Kennedy-Flugplatz waren es noch ungefähr zwölf Kilometer. Sie beugte sich noch einmal nach vorn zum Fahrer. »Bitte!« rief sie. »Bitte, beeilen Sie sich doch. Ich bezahle Ihnen auch das doppelte Fahrgeld.«
    »Okay«, knurrte er, »aber fliegen kann ich trotzdem nicht.«
    Er trat das Gaspedal durch und ließ seinen Wagen mit Höchstgeschwindigkeit dahinschießen.
    Martino Regazzi stand auf dem roten Teppich der obersten Treppenstufe, eingerahmt vom wunderbar geschnitzten Baldachin des Thronsessels. Er hielt sein Manuskript in der linken Hand, aber er las es nicht ab, sondern er sprach über das Mikrofon frei zu seiner Gemeinde.
    »Meine lieben Kinder in Christo«, sagte er ruhig, »heute feiern wir nicht nur das Fest eines großen Heiligen unserer Kirche. Es ist für Amerika und die Amerikaner ein ganz besonderer Tag, weil der heilige Patrick an unserer Küste landete, wie er auch an die Küste Irlands kam – ins Land getragen in den Herzen der Einwanderer, die durch Not und Ungerechtigkeit aus ihrer Heimat vertrieben wurden.« Er breitete die Arme aus. »Sie suchten hier nach einem besseren Leben. Nach Freiheit, nach der Gelegenheit, sich zu entfalten. Nach Menschenwürde und Gewissensfreiheit. Für die Iren und für meine italienischen Landsleute, für Männer und Frauen auf der ganzen Welt war Amerika das Gelobte Land, entzogen dem Zugriff der alten Tyranneien, strahlend in einem neuen christlichen Geist weltumfassender Brüderlichkeit.«
    Er machte eine Pause. In der weiten Kathedrale herrschte atemlose Stille. Niemand hustete, niemand bewegte sich. Der Kardinal hatte alle, wie ein großer Schauspieler, in seinen Bann geschlagen. »Vor einem Jahrhundert, meine lieben Kinder, brachten die zerbrechlichen Schiffe arme Christen in unser Land, die nur noch von Hoffnung und Glaube aufrechtgehalten wurden. Sie glaubten daran, ihren Kindern unter Gottes Obhut ein schönes und erfülltes Leben schenken zu können. Sie brachten uns vieles von dem, was wir heute besitzen. Mancher würde sagen, daß wir ihnen alles verdanken: ihre Kultur, ihr Können, ihre Individualität, ihre Musik, ihre Heiligen. Wir kennen und verehren die Heiligen Patrick, Stanislaus, Anton – sie gehören zu uns und sind Bestandteil Amerikas geworden. Da liegt der Genius unserer Nation! Er ist die Einigung durch Liebe und christliche Gemeinschaft und nicht durch Eroberung!« Wieder hielt er inne. Monsignore Jameson saß im Chorgestühl nur wenige Meter von seinem Kardinal entfernt und sah ihn wie gebannt an. Seine theatralische Ausdrucksweise störte ihn sonst. Aber jetzt wußte er die

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