Der Meuchelmord
Leistung dieses Mannes als das zu würdigen, was sie war: eine geschliffene Waffe, mit der die Feinde Gottes durchbohrt wurden. Auch seine Eltern waren genauso nach Amerika gekommen, wie Regazzi es eben dargestellt hatte. Jameson kannte diese Predigt zwar auswendig, aber die Art, wie der Kardinal sie hielt, ließ doch seine Augen feucht werden.
»Noch lange vor den Einwandererschiffen aus Europa, volle hundert Jahre zuvor, ließen an dieser Küste andere Schiffe ihre Anker fallen.« Der Kardinal zeigte fast anklagend auf die Masse der Gesichter, die ihm zugewandt waren. »Schiffe, die unsere schwarzen Brüder in Christo nach Amerika brachten, in Fesseln und nicht in Freiheit! Nicht das Leben im Geiste war ihnen beschieden, wie es dem Recht des Menschen auf Freiheit und Würde entspricht, sondern das Schicksal der Sklaverei. Und bis heute werden diesen Menschen ihre Rechte vorenthalten.« Er trat einen Schritt vor, streckte seinen Zuhörern beide Arme entgegen und erhob bittend, nicht beschuldigend, seine Stimme, wobei die Leidenschaft des Italieners sich durchsetzte.
»Schickt mir die Armen, die Müden, die Massen, die sich nach Freiheit sehnen! Dies ist das Motto unseres Landes, wie es auf der Freiheitsstatue geschrieben steht. Amerika! Amerika, unser Mutterland. Nicht nur für eine Rasse, für eine Farbe, für ein Bekenntnis – nein, für alle! Amerika, das seine Arme allen entgegenstreckt, die Zuflucht suchen, bleibt diesen ersten armen Kindern des Kontinents immer noch jene Freiheiten schuldig, die es uns anderen voll Großmut schenkt. Und kein Mensch«, er senkte den Blick seiner brennenden Augen und auch die ausgestreckte Hand, bis sein Finger genau auf Jackson zeigte, »kein Mensch, der sich als Christ und als Amerikaner bezeichnet, kann seinen Mitbürgern, seinen Glaubensgenossen die Früchte unserer großartigen liberalen Tradition vorenthalten. Wer das tut, der verdammt unsere Gesellschaft und beschmutzt unsere Nation. Wer die Fortsetzung von Haß, sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung predigt, muß vom amerikanischen Volk dorthin zurückgeschickt werden, woher er kam – in das Dunkel der Anonymität!«
Über dem Thronstuhl des Kardinals richtete sich eine versteckte Fernsehkamera in Großaufnahme auf das Gesicht John Jacksons. Er zeigte keinerlei Reaktion. Während der ganzen Predigt hatte er sich nicht geregt und nichts gesagt. Einige Leute in seiner unmittelbaren Umgebung wirkten peinlich berührt, und zwei seiner Anhänger flüsterten miteinander. Seine Frau, eine massige dunkelhaarige Dame, in einem viel zu warmen Pelzmantel, saß ebenso still und unbeteiligt da wie ihr Mann. Es herrschte ein so erwartungsvolles Schweigen, daß ein einzelnes Niesen wie ein Kanonenschuß durch das Kirchengewölbe hallte.
Oben am Ausgang der 50. Straße stand der Kriminalbeamte Smith und hörte sich die Predigt an, die aus den Lautsprechern dröhnte. Er fühlte, wie die Erregung in ihm hochstieg. Das kam oft bei Kleinigkeiten vor, und schon beim geringsten Fehler konnte er seine Kollegen im Büro unbeherrscht anbrüllen. Dieser ganze sentimentale Quatsch über die Iren und die Einwanderer! Und was war mit Tammany Hall, was mit der Maffia? War das auch Kultur und Musik und Heilige? Er antwortete der dröhnenden Stimme mit ein paar leisen Flüchen. Und all das Getue um die Armen. Zum Teufel mit den Armen, sie machten nur Ärger, und Smith haßte sie deshalb. Er haßte überhaupt die meisten Menschen, ganz besonders aber die Neger. Als der Kardinal über die Neger und die Sklaverei sprach, zuckten Smiths Nerven, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Schwarze Arschlöcher, etwas anderes waren sie doch nicht. Sie gehörten nicht auf die Bürgersteige, sondern genau dorthin, wohin Scheißdreck eben gehört: in die Kloaken. Es machte ihm Spaß, Neger festzunehmen, und es freute ihn, wenn sie geschlagen wurden und dabei ihre Augen rollten. Eine Art Betäubung kam über ihn wie ein Nebel, der ihn mitsamt seinem Haß und seiner unbändigen Wut einhüllte. Ein Kommunist, dieser Kardinal! Großer Gott, noch dazu ein kommunistischer Niggerfreund. Dem gebührte nichts anderes als ein Loch im Kopf, größer noch als seine Klappe. Wo steckte nur dieser miese Kerl, der die Nerven verloren hatte? Wo steckte dieser Gauner, der Smith um zehntausend Dollar brachte? Ich zeig's dir, du Dreckskerl, dachte er. Ich finde dich schon, dann kannst du was erleben.
Martino Regazzi dehnte das Schweigen aus. Er wartete, wie
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