Der mieseste Liebhaber der Welt
letzten Jahren tatsächlich zu einem leidlich gut aussehenden Jungen herangewachsen. Von der spillerigen Schlaksigkeit meiner
frühen Pubertätstage war wenig übrig geblieben. Ich war ein regelmäßiger Schwimmer, ziemlich groß zudem, und meine hellblonden
Locken wuchsen mir inzwischen bis zu den Schultern hinab. In der letzten Zeit war ich schon mit einigen Mädchen zusammen gewesen,
aber nie länger als zwei, drei Monate. Ein bisschen fummeln, eine kleine Reiberei auf dem Trockenen, mehr war nie gelaufen.
Ich war nicht wirklich bereit, mich auf was »Festes« einzulassen. So lautete jedenfalls die offizielle Version. In Wahrheit
blockierte mich der ständige Gedanke an meine Lehrerin. Während rings um mich herum meine Freunde ihre ersten sexuellen Erfahrungen
machten, spielte sich mein Geschlechtsleben in meinem Kopf ab. Bestenfalls.
Um keine blöden Fragen beantworten zu müssen (und weil es sich so ergab), hatte ich auch was mit Maria laufen, einerMitschülerin aus meiner Jahrgangsstufe. Wir hingen viel zusammen rum, eigentlich fast jeden Tag. Maria war in mich verliebt.
Ich versuchte, das Thema zu ignorieren, und Maria fehlte der Mut, mich offiziell darüber in Kenntnis zu setzen. Das war mir
ganz recht, denn ich war wirklich gern mit ihr zusammen. Sie war die Erste, die mir die Sex Pistols vorspielte, sie sammelte
Mafiareliquien aus Sizilien und in ihrem Kleiderschrank war nicht ein einziges Kleid oder das, was meine Mutter »eine hübsche
Bluse« genannt hätte.
Maria war nicht hübsch, aber sie war imposant und unglaublich fotogen – auf Fotos wirkte sie mit ihrem stolzen Blick und ihrer
dunklen Mähne immer wie eine junge Kleinstadtausgabe von Sophia Loren. Das passte: Maria liebte alles an Italien – bis hin
zur Küche. Vielen meiner Mitschüler machte sie ein wenig Angst, aber ich kannte sie schon seit Kindertagen und störte mich
nicht an ihrem dunklen Blick und ihrer tiefen Stimme. Im Gegenteil, ich mochte sie fast wie eine Schwester, hin und wieder
knutschten wir ein wenig herum, wenn sich die Gelegenheit ergab (meistens nach zwei, drei Gläsern Wein, wenn es ohnehin schon
egal war). Einmal im Kino hatte ich übermütig zu ihr rübergefasst, einfach nur, um zu sehen, wie sie sich anfühlen würde.
Maria wehrte sich nicht, aber sie kooperierte auch nicht besonders. Sie schaute einfach weiter auf die Leinwand, wo ›Die Ritter
der Kokosnuss‹ in ihre albernen Schlachten zogen. Es war
nett
, mit Maria zu fummeln, und es war mir auch kein Stück peinlich, dazu waren wir einfach zu vertraut miteinander. Besonders
aufregend fand ich es aber auch nicht. Der Gedanke, dass ich Frau Herrmanns nur
küssen
würde, ließ mein Herz rasen. Das Wissen darum, dass ich mit Maria sehr viel mehr tun könnte, als sie nur zu küssen, entwickelte
dagegen nur einen sehr abstrakten Reiz. Ich hatte die Wahl zwischen einer unerreichbaren Fee in einem Walt-Disney-Märchenund einer
Love Story
in der realen Welt, und ich zog dieses unglaubliche Mädchen aus Fleisch und Blut nicht einmal ernsthaft in Erwägung. Wie ich
schon sagte, es war eine merkwürdige Zeit.
Erst Woody Allen brachte die Dinge in Bewegung. Wir besuchten mit dem gesamten Deutschkurs ein Kino, um uns ›Der Stadtneurotiker‹
anzusehen. Frau Herrmanns war der Ansicht, dass Theater und Kino ebenso zum Deutschunterricht gehörten wie Schiller und Goethe,
hin und wieder organisierte sie Exkursionen nach Aachen. Mit Woody Allen verband ich bis dahin ein paar halblustige Komödien,
›Was Sie schon immer über Sex wissen wollten …‹ und so etwas, und meine Vorfreude auf den Abend bezog sich weniger auf den Film als auf die Möglichkeit, mich
privat
mit Frau Herrmanns zu treffen. (Na ja, ich und die vierzehn anderen Kursteilnehmer.)
Doch der ›Stadtneurotiker‹ haute mich aus den Latschen. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah: Erwachsene Menschen in New
York, Hipster aus einer anderen Galaxie – sie alle litten unter den gleichen Dingen wie ich, die verstörte Kleinstadtnase
aus Blankenburg. Sie führten alberne Gespräche, in denen nie gesagt wurde, was ihnen wirklich durch den Kopf ging. Sie hatten
Sex, aber nicht so, wie ich ihn aus dem deutschen Fernsehen oder ein paar Pornos kannte, sondern wie er vermutlich sein sollte:
leidenschaftlich und lustig zugleich, ein bisschen neurotisch, mit vagen Gesten und unvollendeten Sätzen aus dem richtigen
Leben, voller Missverständnisse und
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