Der Ministerpräsident - ein Roman
mehr.
Dass das eine Einheit sei: Claus Urspring und Ministerpräsident. Dass das eine ohne das andere undenkbar sei, ein Ministerpräsident ohne Claus Urspring, oder ein Claus Urspring, der nicht mehr Ministerpräsident sei. Dass das untrennbar sei. Durch nichts und niemanden zu ersetzen. Oder zu überbieten. Das einfach aufzugeben. Angesichts hervorragender Umfragewerte. Bereits vor dem Unfall, und erst recht nach dem Unfall. Umfragewerte von nahezu monarchischen Ausmaßen. Die Strahlkraft dieser Umfragen reiche weit über die kommende Wahl hinaus. Man könne solche Werte – jahrelang gewachsene und noch Jahre reichende Werte – nicht einfach aufgeben.
Natürlich könne man das, so Frau Wolkenbauer.
März war fassungslos. Er ging hinaus. Er kam wieder hinein. Er reichte ihr ein Buch, ein Buch der politischen Philosophie. Die zwei Körper. So lautet der Titel des Buchs. Er empfahl es ihr dringend zur Lektüre. Damit sie unsere Lage besser verstehe. Ein politischer Amtsträger, so März, bestehe aus zwei Körpern: aus einem leiblichen, sterblichen Körper sowie aus einem politischen Körper, der nicht sein eigener Körper sei, sondern dem Amt und der Allgemeinheit geschuldet sei … Es sei dieser Körper, an dem er, März, mit mir arbeite …
Sie winkte ab.
Später fragte er sie: Ob sie in dem Buch geblättert habe?
Ein wenig.
Ob sie ihn nun besser verstehe?
Nein.
Ob sie an Gott glaube?
Wie bitte?
Ob sie an Gott glaube?
Sie antwortete: Stellen Sie sich vor. Ja, ich glaube an Gott. Und März ging um sie herum und fragte: Wollen Sie also, dass die Opposition die Wahl gewinnt. Wollen Sie das!? Sie verließ das Zimmer. Und er sprach ihr hinterher: Es wird heute noch eine Rede gehalten. Ob Sie das befürworten oder nicht.
Stille.
Hannah, die sich nun behutsam zu Wort meldete: Man könne die Sprechaufnahmen möglicherweise umschneiden, die Rede in ein Interview verwandeln. Frage – Antwort. Viele meiner Sätze seien für Antworten durchaus geeignet. Man müsse nur die richtigen Fragen zu ihnen stellen.
März schien von diesem Vorschlag angetan. Und er überlegte, wer mir diese Fragen stellen könnte, nicht irgendein belangloser Journalist, sondern eine Persönlichkeit. Ein Schauspieler, ein Sportler, ein Geistlicher oder Bischof – oder einfach nur ein normaler Bürger: Frage: Herr Ministerpräsident, Herr Doktor Urspring, wie geht es Ihnen? Nach Ihrem schrecklichen Unfall? Antwort: Danke, mir geht es … besser. Deutlich besser. Derart.
Ich durfte nicht mehr ins Tonstudio. Das war eine Anweisung von Frau Wolkenbauer. Kein Tonstudio mehr – andernfalls werde die Klinik die Verantwortung für meinen Gesundheitszustand nicht mehr länger tragen. Also kam Hannah zu mir ans Krankenbett. Sie wollte für das Interview einzelne Wörter aufzeichnen: Jas, Neins und andere Wörter. Auch waren ihr meine As nicht rein genug. Das Ja sollte wie eine Hinwendung oder Umarmung klingen. Ja. Wie Abraham a Sancta Clara. In dieser Reinheit. Oder wie Barbara. Barbara sagt ja. Ja, sagt Barbara arglos klar. Sprechübungen für immer schönere Jas. Das Interview, so Hannah, es werde mit jeder Umstellung und Einfügung besser und überzeugender. Es wird ein gutes Interview werden, sagte sie.
März hatte uns freigegeben. Wir hatten den ganzen Vormittag für uns, mit Frühstück und türkischer Technomusik, die mir Hannah (von ihrem Aufnahmegerät) vorspielte, mit wachsender Freude, Freude darüber, dass mir das ernsthaft gefiel, während März weit weg von uns war, im Landtag, und dort der Fraktion berichtete: von dem bevorstehenden Interview, von meiner Genesung, eine kontinuierliche und über alle Maßen planmäßig und zufriedenstellend verlaufende Genesung. Er sagte: Eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens werde mit mir das Interview führen. Es werde ein sehr persönliches Interview werden. Man werde sich demnächst davon überzeugen können. Er sagte das im Radio. Und er sagte, dass man all das demnächst ebenfalls im Radio werde hören können: das Interview, die Fragen, die Antworten und einiges mehr …
Hannah saß immer noch bei mir. Sie brauchte noch ein paar Schlussworte für das Interview. Mir fiel nichts ein. Und auch ihr fiel nichts ein. Also sagte ich: Auf Wiedersehen. Das Interview ist nun zu Ende. Und sie lachte und fragte mit einer plötzlich hereinbrechenden Heftigkeit:
Warum ich so nett sei?
Nett?
Jawohl nett.
Warum sollte ich nicht nett sein?
Sie sagte nichts.
Vielleicht weil ich früher selten
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