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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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Rede gehalten hatte – dazu noch in einem verlotterten Jackett. Wie so etwas habe passieren können? Und ich mitten in der Rede zu winken begonnen hatte. Ohne einen nachvollziehbaren Anlass. Dass mich derartige Handlungen sonderbar erscheinen ließen. Dass zahlreiche Kameras all das sehen und festhalten würden, dass der Spitzenkandidat der Opposition das gegen mich verwenden könnte – wie zum Beweis meiner selbst. Dass ich im Übrigen zunehmend die Herzen der Stammtische verlieren würde. Dass ich mich über die Gefühle der Stammtische nicht einfach hinwegsetzen dürfe. Dass man diese Tische weder meiden noch umgehen könne. Dass ich überall, nur nicht abseits dieser Tische stehen dürfe. Wie mimosenhaft mein Verhalten angesichts dieser Tische erscheine. Mimosenhaft und herablassend. Dass ich dem Spitzenkandidaten der Opposition, dessen Namen ich nicht einmal kannte, mit derartigen Verhaltensweisen Prozentpunkt um Prozentpunkt schenken würde: Sympathiepunkte, Menschenpunkte, Wählerpunkte …
    Dass ich auch nicht einfach nach Hause fahren könne. Wie ich mir das vorstelle? Nachdem ich davon gesprochen hatte, vielleicht ein oder zwei Tage nach Hause zu fahren. Um mich dort umzuschauen. Oder spazieren zu gehen. Und um mich zu erinnern … Dass das unmöglich sei, so März. Wo ich denn zu wohnen gedächte? Dass ich mir nicht einmal sicher sein könne, bei meiner Frau überhaupt willkommen zu sein. Dass das viel zu riskant sei. Und unwägbar. Und auch überflüssig. Dass der Wahlkampf in seine entscheidende Phase münde. Dass meine Partei mich brauche – dringender denn je. Dass ich jetzt Präsenz zeigen und Haltung bewahren müsse – mehr denn je. Dass meine Präsenz ab jetzt eine Dauerpräsenz sei. In einem Dauerwahlkampf …
    Dann war März wieder besserer Stimmung. Er telefonierte, er lobte, er zeigte auf Sehenswürdigkeiten und er munterte auf. Ich solle noch direkter und hemdsärmliger auf die Menschen zugehen, sie grüßen, ihnen zuwinken, sie loben, sie beschwichtigen. Grüner Bereich , sagte er. Er sagte es zu mir wie auch zu wartenden Journalisten. Alles sei im grünen Bereich . Oder in der grünen Spur . Er, März, er sei über alle Maßen zuversichtlich, und Hannah erklärte mir, was das eigentlich bedeute, wenn März grüner Bereich oder grüne Spur sage. Dann bedeute das: Es geht noch so gerade eben. Eigentlich ist die Lage schon ziemlich ernst. Dann sei damit zu rechnen, dass März in Wahrheit besorgt sei, dass er uns demnächst zu sich rufen und fragen würde: Ob wir irgendetwas zu sagen hätten, zu den neusten Umfragewerten. Ob uns irgendetwas dazu einfalle …
    Hannah schrieb das in mein Notizheft. Grüner Bereich . Oder grüne Spur . Ich fragte sie, warum sie das tue? Und sie antwortete, das sei ein Glossar: das Glossar von Märzens Stimmungen und Wörtern. Wie in ein Vokabelheft schrieb sie all die Wörter, die März immer wieder sagte, in mein Heft, und sie schrieb daneben, was diese Wörter eigentlich bedeuteten. Sie bedeuteten meist nichts Gutes. Oder zogen dunkle Stimmungen nach sich. Zum Beispiel das Wort stark . Eine Rede sei stark gewesen. Bedeutete in Wahrheit eine matte Rede. Eine gerade noch mögliche Rede. Also dasselbe wie grün . Oder die Wörter nicht minder . Eine Sache sei nicht minder gut oder erfolgreich als eine andere Sache. Bedeutet nach März: Sie ist in Wahrheit ungleich schlechter, schon im freien Fall. Bedeutet rastlose Aktivität, bedeutet Arbeit, bedeutet schlaflose Nächte … Hannah senkte nicht einmal ihre Stimme, als sie das sagte.
    An manchen Abenden mussten Reden umgeschnitten, in manchen Teilen sogar neu gesprochen werden. März schickte Hannah zu mir. Ich hatte in einer Rede Wörter und ganze Sätze verwechselt. Statt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit hatte ich gesagt: Gleiche Arbeit für gleichen Lohn . Wie man so etwas nur verwechseln könne. So März. Der gesamte Wahlkampf könne durch eine solche Verwechslung aus dem Ruder laufen. Dass der Satz fatal sei: Gleiche Arbeit für gleichen Lohn . Es mussten zahllose Stellen neu gesprochen werden. Statt: Gleiche Arbeit für gleichen Lohn nun also: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit . Ob das nicht das Gleiche sei? fragte ich März. Nein, es sei nicht das Gleiche, es sei ein gewaltiger Unterschied, so seine Antwort. Genauso wie der Satz: Wir brauchen wieder Versionen . Was ich mir dabei gedacht hätte? Wie Hannah so etwas habe zulassen können. Versionen. Statt Visionen. Wir brauchen wieder Visionen. Er sprach es

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