Der Ministerpräsident - ein Roman
längst kennen würde? Die Staatskanzlei innerhalb des Staatsministeriums? Was es damit auf sich habe? Der Staatsminister? Oder der Regierungspräsident von Nordbaden? Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Südwürttemberg? Grundlagen des Länderfinanzausgleichs? Der Name des Oppositionsführers?
Für März waren meine Lücken Wüsten. Wüsten des Nicht-Wissens und des Nicht-Vorhandenseins. März wusste nicht, wo anfangen. Und wo aufhören? Ich sollte nicht aus dem Fenster schauen, sondern an meinen Lücken arbeiten. Er fragte mich ab. Er lobte und tadelte. Und reichte mir Bücher, in denen ich wenigstens blättern sollte.
So wie ich früher als Schüler in Büchern wenigstens hätte blättern sollen, statt sie weiträumig zu meiden. Und ich erinnerte mich nun an meinen Vater, an Bertram Urspring, wie er mich eines Abends in sein Arbeitszimmer zitiert und Sätze gesagt hatte wie: Wenn jetzt nicht endlich gearbeitet werde. Wenn jetzt nicht endlich Bücher geöffnet würden. Wenn ich mich nicht demnächst zusammenreißen und Vokabeln lernen würde. Wenn ich ein weiteres Mal das Schuljahr wiederholen müsse … Was das bedeuten würde, ein weiteres Schuljahr zu wiederholen. Es würde bedeuten: Das Ende meiner Gymnasialzeit. Das Ende seiner Geduld. Das Ende aller geordneten und gesicherten Verhältnisse. Das Ende meines Lebens. Denn wie ein Lebensende hielt er mir mein Scheitern vor Augen, ein Lebensende, noch bevor mein Leben überhaupt richtig angefangen hatte. Es wäre ein Fall ins Bodenlose. Ein Abrutschen in unvorstellbare Niederungen. Es würde Müllabfuhr bedeuten. So sagte das mein Vater. Und er sprach das Wort Müllabfuhr wie Gefängnis. Oder wie Höllenqualen schon zu Lebzeiten. Oder ein lebenslängliches Fegefeuer. In einer Unterwelt von Unrat. Ein endloses Grauen. Müllabfuhr. Wenn nicht endlich mit aller Macht gearbeitet werde. Egal wie nichtig das Gelernte auch sein mochte. Und ich versprach ihm, mich zu bemühen, und ich bemühte mich nach Kräften, und ich erlebte alles Weitere als unablässige, ruhelose, endlose Arbeit …
März schreckte mich aus meinen Gedanken: Auf der Monetarismuskonferenz der Zeppelin University in Friedrichshafen würde ich eine Rede halten. Das sei unvermeidlich, so März. Der Termin sei schon vor meinem Unfall vereinbart worden. Ich sagte März, dass ich nicht wisse, was Monetarismus sei und was Monetarismus bedeute. Es bedeute Geld, so März. Dass Geld eine wichtige Sache sei. Dass Geld heilig sei. Derart. Im Übrigen sei die Rede, die ich dort halten würde, längst gesprochen. Ob ich mich daran nicht erinnern könne? Nicht einmal das, so das Seufzen von März. Ich erinnerte mich nur noch an einzelne Wörter und an Hannahs Gesichtsausdruck während dieser Wörter. Und an ihr Haar. Ich sagte März: Dass mir das unheimlich sei. Ich würde von wirtschaftlichen Fragen nichts verstehen. Solche Fragen würden mich auch gar nicht interessieren. Und März antwortete: Dass das nicht so schlimm sei. Dass ich nur eine kleine Rede halten und dann wieder gehen würde. Nicht mehr.
An manchen Tagen war März aufmunternd, dann wieder gereizt. Er rief mich zu seinem Platz: Was machen wir mit diesen Umfragewerten? Ich wusste es nicht. Dass die Umfragewerte, so März, nicht zufriedenstellend seien. Dass meine Werte in den letzten Tagen um fünf Prozentpunkte gefallen seien. Prozentpunkte an Sympathie, an Kompetenz und Ausstrahlung.
Was ich dazu sagen würde?
Ich sagte nichts.
Ob mir dazu etwas einfalle?
Mir fiel nichts dazu ein.
Ob ich einen Vorschlag hätte?
Ich hatte keinen Vorschlag.
Hannah sagte: Was ich denn seiner Meinung nach tun solle? Mich entschuldigen? Besserung geloben? Wiedergutmachung versprechen? Einen Achttausender besteigen? Mich von einem Kirchturm stürzen?
Doch März sagte, diese Werte seien Ausdruck von Fehlern, die gemacht worden seien. Dass ich zum Beispiel vor einer Wahlkampfveranstaltung viel zu ausgelassen mit meinem Fahrrad im Kreis herum gefahren sei. Um Biertische und eine Blaskapelle herum. Wie ein Gassenjunge. Als ob ich mit der Wahlkampfveranstaltung gar nichts zu tun gehabt hätte. Die Bühne geradezu hätte meiden wollen. So habe das ausgesehen. Dass das Befremden erregt habe. Oder als ich unbedingt einen Aussichtsturm hatte besteigen wollen. Einfach so. Ohne einen Grund. Oder ich ein Interview gegeben hatte, ohne März vorher gefragt zu haben. Dass der Schaden, den dieses Interview angerichtet habe, gewaltig sei. Oder dass ich unrasiert eine
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