Der Ministerpräsident - ein Roman
uns mit großen Mundbewegungen vor: Visionen. Oder das Wort Wahlkampfpreise , das ich statt Wahlkampfreise gesprochen hatte. Meine Wahlkampfpreise . All das musste korrigiert werden, was nicht einfach war. Hannah kam immer wieder zu mir, damit ich diese Wörter neu spreche: Visionen statt Versionen, Wahlkampfreise statt Wahlkampfpreise … Und sie ging wieder in ihr Zimmer, um das in die Rede einzufügen. Sie war müde, sie war gelangweilt, sie war gereizt. Ob nun Wahlkampfreise. Oder Wahlkampfpreise. Es interessierte sie kaum mehr. Es war ihr egal. Sie fragte: Ob mir das Freude mache? Auf einem Hotelbett zu sitzen und verstümmelte Wörter zu sprechen. Oder allenfalls halbe Sätze, die dann zusammengeschnitten oder umgeschnitten würden. Was für grauenhafte Reden das seien, die März uns da vorlege. Nichtssagende Reden. Fehlervermeidungsreden. Aussageverweigerungsreden. Beknieungsreden. Reden ohne irgendeinen erkennbaren Gedanken. Wir würden das alles hinnehmen wie Schüler eine endlose Schule. Mit der größten Selbstverständlichkeit. In stupider Unterwürfigkeit. Ohne irgendeine Frage zu stellen. Die ständigen Umfragewerte wie ein Zeugnis, das März uns immerzu vorhalte. So wie ein Lehrer einem Schüler eine missglückte Hausaufgabe jeden Tag aufs Neue vorhalte. So wirke das. Sie war gereizt, sie war ungehalten, sie war müde.
Im Hinausgehen fragte sie mich noch, was ich eigentlich studiert habe, und ich wollte es ihr in großer Selbstverständlichkeit sagen, doch ich fand keine wirkliche Antwort. Derartig nichtssagend klangen die Fächer, die mir in den Sinn kamen, und Hannah blieb stehen und sagte: Ich müsse doch wissen, was ich studiert habe. Zum Beispiel der Doktortitel, der auf jedem Wahlkampfplakat erscheine. Was das für ein Doktor sei? Ich wusste es nicht. Über welches Thema meine Doktorarbeit gegangen sei? Ich wusste es nicht. Oder ich wusste es nicht wirklich. Ich erinnerte mich nur an die Endlosigkeit jahrelanger Arbeit. Das war meine Doktorarbeit.
Doch Hannah ließ nicht ab und sagte: Ich müsse doch wissen, welches Fach ich studiert hatte, und ich erinnerte mich nun, wie meine Eltern – gleich nach meinem Abitur – sich zusammengesetzt hatten und all die Fächer, die ich studieren könnte oder studieren sollte, in großer Eindringlichkeit besprachen. Sie prüften den Klang jedes einzelnen Fachs. Denn schon in diesem Klang lasse sich der Ernst und die Durchschlagskraft eines Fachs erkennen. Sie erörterten das Ansehen und den Wert jedes Fachs. Sie begutachteten die Aussichten der in Frage kommenden Fächer. Was man mit ihnen anfangen könne? Wie lange man dafür studieren müsse? Verwandte und Freunde wurden eingeladen, um ihre Meinung zu äußern. Manche rieten zu bestimmten Fächern zu, andere rieten entschieden von ihnen ab. Auf keinen Fall Anthropologie. So ein Onkel. Auf keinen Fall Anthropologie. Es war ein fieberhaftes Abwägen, Vergleichen und Verwerfen. Als könnte durch ein falsches Studium mein Leben aus den Fugen geraten. Und ich erinnere mich noch, wie mein Vater irgendwann, fast schon ein wenig resigniert, sagte: Wir werden schon noch etwas für ihn finden. Daran erinnere ich mich.
Oskar Saar. Was mir der Name sage, fragte März, als er mich am nächsten Morgen zu sich rief. Oskar Saar. Der Name sollte mir allerdings einiges sagen, denn dieser Name war nicht irgendein Name, sondern der Name meines Gegenkandidaten. Man hätte mich mit diesem Namen weiterhin verschont, so März, wenn uns dieser Name nicht immer näher gekommen wäre. Jede Woche um einige Prozentpunkte näher. Wenige Tage später war er, Saar, sogar leibhaftig zu sehen, in einem Wahlkampfbus, der unserem Wahlkampfbus auf einer Bundesstraße entgegenkam. Ich hielt diesen Wahlkampfbus nur für ein Spiegelbild unseres eigenen Busses, doch März, der zu mir eilte, er zeigte auf diesen Bus: Das sei er. Das sei Oskar Saars Bus. Und März telefonierte. Und verglich unsere Wahlkampfroute mit Oskar Saars Wahlkampfroute. Und er versuchte den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Routen einen Sinn abzugewinnen.
März fühlte sich von Saar mehr und mehr verfolgt. Wenn wir in einer Stadt einen Auftritt hatten, dann konnte es sein, dass Saar in derselben Stadt wenige Tage später ebenfalls einen Auftritt hatte. Nie hatte er vor uns einen Auftritt. Stattdessen immer nach uns. Als wollte er etwas richtigstellen. Was immer ich auch gesagt hatte. Er wollte darauf eingehen können. Er wollte sich darüber lustig machen können.
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