Der Ministerpräsident - ein Roman
hatte das in meinen letzten Reden oft genug gesagt, dass Kinder unser wichtigstes Kapital seien. Und ich fragte März: Ob man denn daran denken würde, unsere Kinder zu verkaufen? Oder sie zu vermieten? Wenn Kinder tatsächlich unser aller Kapital seien. An wen man sie dann zu verkaufen gedenke? Und wo man sie zu verkaufen gedenke? Und in welchem Alter man sie zu verkaufen gedenke?
Dass das nur eine Redewendung sei, so März. Dass man das nicht wörtlich nehmen dürfe, so März. Und ich fragte März: Was ist, wenn Kinder das nicht sein wollen, unser wichtigstes Kapital. Wenn sie lieber etwas anderes sein wollen. März winkte ab. Und ich fragte ihn bei dieser Gelegenheit, warum nicht auch Kinder wählen dürfen? Statt unser aller Kapital zu sein. Weil sie zu jung zum Wählen seien, so März. Warum sie dann, fragte ich, nicht wenigstens ihre Schulen wählen dürfen? Oder ihre Lehrer? Oder ihre Eltern? März war fassungslos. Wie soll das gehen? Dass Kinder ihre Eltern wählen. Was für eine irrwitzige Idee das sei. Und ich erklärte ihm: Wenn immerzu die Rede von Wahl und Wahlkampf sei, warum dann nicht auch Kinder ihre Eltern wählen können? Oder Arbeiter ihre Arbeit? Oder Rentner ihre Rente? März winkte ab … Oder Männer ihre Frauen? Oder Frauen ihre Männer? März war entsetzt. Was ich da reden würde. Dass im Übrigen Männer ihre Frauen ja durchaus wählen dürften. Und umgekehrt. Doch ich sagte März, dass Frauen und Männer oft Gesichter machten, als ob dem gar nicht so sei …
Papperlapapp, erwiderte März.
Als ob sie nie wirklich hatten wählen dürfen. So sehen die Gesichter vieler Männer und Frauen aus. Oder wenn sie ein bisschen hatten wählen dürfen, dann hatten sie gewählt, weil ihnen gar keine andere Wahl blieb als so zu wählen, wie sie zähneknirschend nun einmal gewählt hatten. Als ob sie das gerade noch Mögliche gewählt hätten. So sehen die meisten Männer und Frauen aus. Das gerade noch irgendwie Mögliche, statt das Unmögliche. Doch wenn man Unmögliches gar nicht wählen darf, dann ist das ja gar keine richtige Wahl …
März führte mich in ein anderes Zimmer. Er sagte: Das sei Irrsinn. Konfus und haltlos. Geradezu blasphemisch. Zu keinem Zeitpunkt dürfe ich jemals Derartiges auch nur andeuten. Er nannte das bodenlos, selbstmörderisch, wahlgefährdend, wahlvernichtend. Er war außer sich.
Hannah hatte gesagt, es gebe auch so etwas wie Meinungsfreiheit. Und März antwortete: Dass das für einen Ministerpräsidenten nur eingeschränkt gelte. Dass das nicht vordringlich sei. Im Übrigen auch nicht meine Aufgabe. Es gehe darum, eine Wahl zu gewinnen. Zumindest diese Wahl nicht zu verlieren. Dass es in einer Wahl nicht um Ideen gehe. Im Gegenteil. Es gehe um die Abwesenheit von Ideen. Es gehe darum, Ideen glaubwürdig zu verbergen. Oder sie von vornherein zu vermeiden. Oder sie zumindest so lange zu schleifen, bis sie keinen Schaden mehr anrichten. Darum gehe es.
Ich sollte lieber Autogramme schreiben. Autogramme würden Menschen eine Freude bereiten und keinen Schaden anrichten. Zum Beispiel eine Kellnerin, die mich beim Abendessen im Hotel um ein Autogramm bat. Das Autogramm sei nicht für sie, sagte sie, sondern für eine Kollegin, die sich nicht getraue, sich persönlich an mich zu wenden. Ich fragte: Warum sie sich das nicht getraue? Ihre Antwort: Weil sie sich schäme. Sie schäme sich, weil ich Ministerpräsident sei und sie nicht. Und März, der das gehört hatte, schaute mich an und sagte: Siehst du. Verstehst du.
Manchmal verwechselte ich das Wort Autogramm mit dem Wort Programm. Jemand wollte ein Autogramm, und ich antwortete: Gerne gebe ich Ihnen ein Programm. Und März sagte, meine Unterschrift sei in der Tat ein Programm. Mehr als nur ein Programm. Und ich fragte ihn bei dieser Gelegenheit noch einmal nach dem Wahlprogramm. Wenn dieses Wahlprogramm längst verabschiedet sei, fragte ich März, warum es dann überhaupt bindend sei, wenn man von dem Programm bereits Abschied genommen habe. Und März sagte, das seien Wortklaubereien. Ich solle mir lieber Gedanken über meine Frisur machen. Und er schickte einen Friseur. Und er schickte am selben Abend Hannah zu mir. Sie brauchte noch einige Wörter und Halbsätze, die ich bitte sprechen sollte. Hannah sollte sie in meine Reden einarbeiten. Sie musste diese Reden immer wieder umändern. An neue Gegebenheiten anpassen. Oder in die Länge ziehen. Wenn zum Beispiel ein Auftritt statt dreißig Minuten plötzlich vierzig
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