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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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an den Bretterhütten der Fischer, über den schmalen, steinernen Staudamm und durch das Birkenwäldchen. Die Äste trugen hellgrüne Blätter und zwischen den Stämmen senkte sich das Abendrot. Ganz in der Nähe trottete eine Wildschweinfamilie in Reih und Glied über eine Lichtung.
    »Als du das Lied vorhin gesungen hast«, sagte Judith, »hatte ich den Eindruck, als würdest du selbst in den Kreuzzug ziehen wollen.«
    »In dem Lied übernehme ich nur eine Rolle«, erwiderte Hartmann. »Aber du hast in der Tat nicht Unrecht.«
    »Du wirst doch nicht die Schauergeschichten glauben, die an jeder Ecke über die Sarazenen verbreitet werden? Ich finde es unverantwortlich, wie die Wanderprediger die Männer aufhetzen. Ohne warme Kleidung, ohne Nahrung und ohne Waffen schicken sie die Ahnungslosen los. Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen, wie sie verrohen werden. Wie hungrige Tiere werden sie in die Dörfer einfallen und alles stehlen, was zu verzehren ist. Und wenn sie erst einmal ein Gebot gebrochen haben, nehmen sie es mit den anderen auch nicht mehr so genau und fallen über die Frauen her. Die einheimischen Bauern werden das natürlich nicht zulassen und bezahlen ihren Widerstand mit dem Leben. Zum Schluss setzen die Kreuzfahrer alles in Brand, um ihre Missetaten zu vertuschen.«

    »Judith, du übertreibst!«
    »Findest du wirklich, dass ich übertreibe, oder sagst du das nur, um dir den Abenteuergeschmack nicht zu verderben?«
    Hartmann stieß ein Seufzen aus. »Wenn mein alter Herr noch leben würde, könnte Sultan Saladin mich keinen Schritt von hier fortbringen, aber die Dinge haben sich nun mal geändert. Was glaubst du, warum ich am Hof wieder geduldet bin?«
    »Sag’s mir.«
    »In einem Gespräch unter vier Augen hat mir der Herzog unmissverständlich klargemacht, was er von mir erwartet, wenn ich in seinem Gefolge wieder eine Aufgabe übernehmen will...«
    »Du sollst ins Heilige Land ziehen?«
    »Ganz genau! Der Herzog hat lange darüber nachgedacht, ob er sich selber den kaiserlichenTruppen anschließen soll, aber seine Kampfkünste sind so verkümmert, dass er nicht mal einen Knappen aus dem Sattel stechen könnte. Eine Schlacht gegen Saladins Krieger würde er nicht überleben. Deshalb hat er sich entschieden, eine Abordnung zu entsenden, die von seinem Onkel, dem Bischof von Lüttich, angeführt werden soll. DerTrupp wird sich vorwiegend aus Männern zusammensetzen, die dem Herzog einst unangenehm aufgefallen sind. Der Marschall, Burkhard von Schlatt und ich sollen ihm auch angehören.«
    »Warum suchst du dir nicht einen neuen Herrn?«
    »Mich würde niemand nehmen. Ich habe vor einigen Jahren ein Angebot des Kaisers ausgeschlagen und daraufhin bin ich landesweit in Ungnade gefallen.«
    »Und jetzt willst du deinen Ruf wiederherstellen?«
    »Ganz genau. Der Kreuzzug bietet mir gewisse Möglichkeiten. Zum einen kann ich am Hof des Zähringers neue Wertschätzung erlangen, indem ich als Gotteskrieger aus dem Heiligen Land zurückkehre. Zum anderen werde ich eine Gelegenheit suchen, um dem Kaiser meine Absage damals zu erklären. Bei allem Machtstreben ist er ein Mann, der Loyalität zu schätzen weiß. Vielleicht versteht er, dass ich meinen früheren Herrn nicht im Stich lassen wollte. Möglicherweise bin ich dann auch nicht mehr auf den Zähringer angewiesen, sondern kann mir einen neuen Herrn suchen.«
    »So ein Kreuzzug ist kein Kinderspiel, Hartmann. Du setzt dich großen Gefahren aus und wirst vielleicht niemals zurückkehren!«
    »Wenn man etwas unbedingt haben will, muss man manchmal Risiken eingehen.«
    Judith fragte sich, was er damit meinte. Als sie seinem entschlossenen Blick begegnete, kannte sie die Antwort. Er wollte das Gleiche wie sie; er wollte, dass sie für immer zusammen sein konnten. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie ähnlich sie sich waren. Sie verstanden einander, auch ohne viele Worte.
    Schweigend gingen sie am Fluss entlang und erreichten den kleinen Strand, wo sie stets eine Pause einlegten, bevor sie sich auf den Rückweg begaben. Judith trat an die Wasserkante und setzte sich mit angezogenen Knien in den Sand. Versunken schaute sie auf das Wasser, das schwer wie flüssiges Blei vorüberströmte. Sie konnte nichts dagegen unternehmen - ihr liefen die Tränen über die Wangen.
    Jetzt hatten sie endlich eine kleine Nische in der Welt gefunden, wo sie sich nahe sein konnten. Und da sollte alles
schon wieder vorbei sein, noch ehe es richtig begonnen hatte?

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