Der Minnesaenger
Kurz nach ihrer Llnterredung hatte er den Herzog um eine Aussprache gebeten und seitdem verbrachte er wieder mehr Zeit am Hof. Einerseits freute sich Judith über diese Entwicklung, denn ihr war klar gewesen, dass Hartmann seine Fähigkeiten verschwendete, wenn er dauerhaft als Pfarreiknecht arbeitete. Andererseits vermisste sie ihn, denn in den vergangenen Wochen waren sie sich wieder sehr nahegekommen. Beinahe täglich hatten sie einen Spaziergang unternommen und sich über alles unterhalten, was sie so beschäf tigt hatte. Beide hatten regen Anteil an den Gedanken und Gefühlen des anderen genommen und sich gegenseitig bestärkt. Auch hatten sie ausgelassen herumgealbert. Judith hatte noch nie mit einem Mann einen so vertrauten Umgang gepflegt; sie hatte nicht einmal geahnt, dass ein solcher Austausch überhaupt möglich wäre. Bei jedem Treffen hatte sie erneut gestaunt, wie durch seine Gegenwart alles andere zur Nebensache geworden war. Bei ihm hatte sie sich so geborgen gefühlt, als könnte ihr nichts und niemand etwas anhaben. Obwohl sie es noch nie ausgesprochen hatte, konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht
mehr vorstellen, und sie hatte das sichere Gefühl, dass es ihm genauso ging.
»Hartmann!«, rief in diesem Moment ein Bauernjunge, der auf einem Bett am Eingang lag. Vor zwei Wochen war er von einem Edelmann über den Haufen geritten worden. Der rechte Unterschenkel war so schwer verletzt worden, dass sie ihn amputieren mussten. »Was hast du mir mitgebracht?«
Hartmann trat an sein Bett und zeigte seine leeren Hände. »Du hast schon alles bekommen, was ich habe.«
»Aber du hast es versprochen! Du wolltest mir etwas mitbringen. Etwas Besonderes!«
»Wenn das so ist«, sagte Hartmann und zog unter seiner Tunika einen metallenen Gegenstand hervor, der auf Hochglanz poliert war. »Ich habe diesen Dolch vom Kaiser bekommen, als ich auf dem Mainzer Hoffest den Dichterwettstreit gewann. Wenn du auf ihn Acht gibst, soll er dir gehören.«
Der Knabe jubelte laut, aber plötzlich verstummte er. Seine Stirn zog sich kraus und die Augen füllten sich mit Tränen. »Die anderen Jungen werden ihn mir wegnehmen. Ich kann mich nicht wehren, ich bin doch nur ein Krüppel!«
Hartmann strich dem Kind übers Haar und legte ihm den Dolch in den Schoß. »Du wirst sehen, er ist gut bei dir aufgehoben.«
Der Junge griff nach der Waffe, drückte sie an die Brust und drehte sich zur Lehm wand, wo er leise vor sich hinweinte.
Hartmann ging an den anderen Betten vorbei zu Judith hinüber.
»Heute ist es besonders schwer für ihn«, sagte sie. »Sein Vater war hier und hat ihm gesagt, dass sie ihn auf dem Hof nicht mehr sehen wollen. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob wir im Spital oder in der Pfarrei eine Aufgabe für ihn finden.«
»Dir wird bestimmt etwas einfallen«, sagte Hartmann und schaute ihr fest in die Augen.
Judith erwiderte seinen Blick und verlor sich in ihm. Sie fühlte sich schwerelos und wollte, dass dieser Moment niemals aufhörte. Erst das hartnäckige Husten eines Patienten brachte sie zurück in das Hier und Jetzt.
Hartmann lächelte ihr zu, setzte sich auf einen Schemel und zog die Harfe aus dem Lederfutteral.
»Wenn das nicht mein Lieblingssänger ist«, sagte Gundula und schaffte das Kunststück, sich wie eine Jungfrau anzuhören. »Hast du mir wieder ein Liebeslied geschrieben?«
»Damit du erfährst, was in der Welt vor sich geht, spiele ich dir heute etwas anderes vor«, sagte Hartmann. »Überall ziehen nämlich Wanderprediger durchs Land und rufen zum Kreuzzug auf. Bauern, Handwerker und Kaufleute geloben feierlich, die heiligen Stätten von Jerusalem zu befreien. Der Herzog von Zähringen hat mich gebeten, ein Lied zu verfassen, das den Mut und die Opferbereitschaft der Wallfahrer beschreibt.«
Während er diese Einleitung gab, flogen seine Finger über die Saiten und ließen eine stimmungsvolle, beinahe kämpferische Melodie erklingen. Mit seiner rauen Stimme fiel er in die Strophen ein: »Die Welt ist mit mir so umgegangen, / dass ich nach ihr / kaum noch Verlangen empfinde. / Das ist sehr gut für mich. / So wie es nun steht, / hat Gott freundlich für mich gesorgt, / dass die Rücksicht
auf Irdisches, / die viele wie eine Fessel bindet, /... / mich nicht zu kümmern braucht, / wenn ich nun mit dem Kreuzheer / in seliger Heiterkeit aufbreche...« 7
Es war schon früher Abend, als Hartmann und Judith zu ihrem Spaziergang aufbrachen. Sie wählten den üblichen Weg: vorbei
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