Der Minnesaenger
kommen oft Weiber hoch. Meistens haben sie ein Lasterbalg im Bauch und...«
»Mein Name ist Judith«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich bin die Ehefrau des Marktgeschworenen August und diene dem hohen Rat der Stadt Freiburg als Heilerin. Es geht um eine wichtige Angelegenheit und ich verlange sofortige Auskunft! Ansonsten wird es...«
»Man wird ja wohl noch ein Späßchen machen dürfen. Hartmann ist mit dem Trupp in der Nacht aufgebrochen.«
»Was? Er ist fort?«
Mit der Hand wies der Soldat unbestimmt über die Flusslandschaft. »In diese Richtung sind sie geritten.«
Judith blickte in die Ferne. Silberweiße Wolken zogen am Himmel vorüber. Raubvögel segelten durch die Lüf
te und spähten nach Kleintieren aus. Von Hartmann fehlte jede Spur. Wenn er nicht zurückkehrt, dachte sie , bin ich schuld. Ich habe ihn ziehen lassen, ohne Abschied zu nehmen. Der Himmelkaiser muss denken, dass mir nichts an ihm liegt.
Verzweifelt begab sie sich auf den Heimweg. Von dem bunten Treiben um sie herum bekam sie nichts mit. Bürgerinnen traten auf die Gassen und schüttelten die Nachtdecken aus. Bierverkäufer priesen ihr Gebräu an. Auf dem Münsterplatz flatterten zahllose Tauben auf, um wenige Schritte entfernt wieder zu landen. Als Judith die Tür zum Turmhaus öffnete, wollte sie nur noch ins Bett - und erschrak fürchterlich.
Mit gezücktem Schwert stürzte ihr Ehemann auf sie zu. »Wo warst du?«, rief er.
Es dauerte einen Moment, bis sie begriffen hatte, dass er sie nicht angreifen wollte, sondern nur seine täglichen Schwertübungen machte. »So wie du hier rumrennst, kann man ja Angst bekommen«, sagte sie und wollte sich vorbeidrängen.
»Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede.«
»Das geht dich überhaupt nichts an. Ich frage dich auch nicht, wo du warst, wenn du ausbleibst. Und jetzt lass mich durch.«
»Glaub bloß nicht, dass ich nicht weiß, was hier vor sich geht. Die Leute erzählen überall, dass du es mit diesem Dichter treibst. Ich will keine läufige Hündin zur Ehefrau. Hast du das verstanden?«
»Das stimmt nicht.«
»Bisher sind wir gut miteinander ausgekommen, aber ich kann auch anders. Vergiss niemals, wozu ich imstande bin.«
Im Jahre des Herrn 1190
1.
Am II. Februar erschien am südlichen Firmament ein helles Licht, das zwischen den funkelnden Sternen weit in den Norden streifte, bis es genau in dem Moment erlosch, als sich auch der Mond verfinsterte. Am 13. Mai, am Feste des heiligen Servatius, gingen heftige Hagelschauer nieder. Die faustgroßen Körner zerschlugen die Fruchtbäume und plätteten das stehende Korn. Als die Bauern ihre Ernte einbrachten, war der Großteil des Hafers an den Halmen verfault. Das wenige Obst fiel zu früh von den Ästen, und die Äpfel, Birnen und Pflaumen waren so hart, dass sie nicht einmal als Viehfutter dienen konnten.
Die Astrologen befragten die Sterne, ob diese unheilvollen Zeichen als Vorboten verstanden werden mussten. Die rückläufigen Planeten und die zahlreichen Oppositionen zeigten an, dass eine Katastrophe von erschreckenden Ausmaßen bevorstand. Ob der Kreuzzug des Kaisers fehlschlagen, ob die Welt in einen tiefen Abgrund stürzen oder ob der Antichrist die Menschheit heimsuchen würde, blieb jedoch im Ungewissen.
So harrten die Menschen voll banger Erwartung aus. Ängstlich sahen sie zu den Bergwipfeln empor, die unter gewaltigen Eruptionen das Höllenfeuer ausspeien konnten
- so hörte man zumindest. Stieß man am Wegesrand auf ein totesTier, so trug man es zum nächsten Wahrsager, damit er in den Innereien nach Hinweisen lesen konnte. An den Flussufern fanden sich unter der Führung selbst ernannter Propheten zahlreiche Christen ein, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen.
Als sich die Kunde verbreitete, dass auf der Iberischen Halbinsel ein schlimmes Hustenfieber wütete, waren die meisten Bürger beinahe erleichtert, dass sie es »nur« mit einer Krankheit zu tun bekommen sollten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, wie viele Menschen ihr Leben verlieren würden.
Im November fanden sich mehrere Männer, Frauen und Kinder aus der Nachbarschaft im Spital ein. Sie klagten über die üblichen Symptome einer schweren Erkältung. Zudem wiesen alle Anzeichen von Unterernährung auf, so dass die Abwehrkräfte geschwächt waren. Besorgniserregend erschien außerdem, dass sich die Krankheit nicht über einen längeren Zeitraum angekündigt hatte, sondern von einem Moment auf den anderen ausgebrochen war.
Judith, Vater
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