Der Minnesaenger
entwurzelt worden war und eine gefährliche Schräglage eingenommen hatte. Das Holz verarbeitete er zu Latten und im Anschluss besserte er den morschen Schweinestall aus. Er half dem alten Totengräber und hub tiefe Löcher für verstorbene Gemeindemitglieder aus. Aus Stroh und Stöcken fertigte er Puppen an und postierte sie im Kräutergarten, um die Saat vor den Vögeln zu schützen. Er schleppte zahllose Feldsteine heran und schichtete sie um den Brunnenschacht auf, damit weder Mensch nochTier hineinstürzen konnten. Ausgerüstet mit einem Beil kletterte er auf die alten Eichen und hackte
die großen, weit abstehenden Äste ab, um das Schieferdach der Kirche zu schützen.
Hartmann schuftete tagelang von früh bis spät und sank jedenAbend in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen erhob er sich wieder vom Bett, sobald er die Augen geöffnet hatte. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Judith gab ihm die nötige Kraft. Wenn er eine Pause einlegte, stellte er sich in die Spitaltür und beobachtete, wie sie der alten Gundula das Fleisch vorkaute und ihr von den Geschehnissen des Tages berichtete. Wenn er sah, mit welcher Liebe sie ihre Tätigkeit verrichtete, wollte auch er unter Beweis stellen, dass er sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen vermochte. Mit neuem Schwung ging er nach draußen und griff nach dem Vorschlaghammer, um die Pfähle für den Friedhofszaun in die Erde zu rammen. Die körperlichen Anstrengungen halfen ihm, jeden Gedanken an den Beerenwein zu verdrängen. Er konzentrierte sich ganz auf seine Tätigkeit und stellte mit Erstaunen fest, wie befriedigend es war, mit den Händen etwas zu schaffen.
Nach und nach überwand sein Körper die Trägheit und an Schultern, Armen und Beinen bildeten sich kräftige Muskeln aus. Sein Denken fand wieder zur gewohnten Stärke zurück. Bald fühlte er sich so weit hergestellt, dass er sich in den Mittagspausen zu Judith, Vater Lothar und den beiden Kirchdienern gesellte. Aufmerksam lauschte er den Gesprächen, die sich nicht nur um das Spital drehten, sondern auch geistige Themen anschnitten.
Obwohl Vater Lothar meistens das Wort führte, vermittelte er seinen Gesprächspartnern stets ein Gefühl von Ebenbürtigkeit. Er verbreitete weder Angst vor der ewigen
Verdammnis noch hob er mahnend den Zeigefinger über etwaige Verfehlungen. Seine Worte vermittelten vielmehr Zuversicht. »Der Mensch«, sagte er einmal, »ist zum Opus Dei, zum Dienst an Gott, erschaffen worden. In der Bauhütte der Welt gibt er seinem Leben durch gute Taten einen Sinn. Jeder Mensch ist für sein Handeln selbst verantwortlich und kann jederzeit umkehren, wenn er vom Weg abgekommen ist-dazu ist es nie zu spät.«
Der Geistliche verzichtete auf jeden kirchlichen Dünkel. Hartmann begriff, dass er Judith ein geistiges Zuhause bot, wo sie Wissen anhäufen und eigene Ideen einbringen konnte. Es war nicht verwunderlich, dass sie in diesem Umfeld viele Ansichten nicht länger als gegeben hinnahm, sondern eigene kritische Überlegungen anstellte.
An einem sonnigen Apriltag nahm Hartmann seinen Mut zusammen und fragte sie, ob sie mit ihm spazieren gehen würde. Sie willigte sofort ein. Während die beiden hinunter zur Dreisam schlenderten, knüpfte sie an das Pausengespräch an, das sich um christliches Handeln gedreht hatte.
»Vater Lothar nimmt die Bedürftigen auf, um ihnen Gutes zu tun«, sagte sie. »Er teilt mit ihnen alles, was er hat. Er sagt immer, dass auch der Heiland nicht auf die Erde gekommen sei, um sich zu bereichern. Wenn ich mir dagegen den Bischof so ansehe, wie er sich mit Ringen, Ketten und teuren Stoffen behängt, muss ich mich doch fragen, ob er Jesus Christus falsch verstanden hat.«
Der Pfad führte unweit der Wasserkante entlang und war breit genug, damit sie nebeneinander gehen konnten. Der Fluss plätscherte leise vorüber, in den Ästen der Weiden saßen die Amseln und zwitscherten ein Lied. Am
blauen Himmel trieben Wolkentürme vorüber, die sich jederzeit in Schauern entladen konnten.
»Du hast Recht«, sagte Hartmann. »Zwischen den weltlichen und geistlichen Herren gibt es kaum noch Unterschiede. Auch die Kleriker häufen Reichtümer und Macht an und vergessen darüber die Lehren Christi.«
»Es tut so gut, mit dir zu reden«, sagte Judith und atmete hörbar die frische Luft ein. »Die meisten Männer belächeln mich nur, wenn ich meine Meinung sage. Du und Vater Lothar - ihr seid die Ausnahmen. Ihr beurteilt den Menschen weder nach
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