Der Minnesaenger
Abenteuer einließ, ohne einen Plan zu verfolgen. Was genau konnte er nur damit gemeint haben?
Vor allem die Ehe mit August stand ihrem Glück im Weg. Eine Scheidung war vor kurzem noch eine weltliche
Angelegenheit gewesen, die häufig praktiziert wurde, aber mittlerweile übte die Kirche so viel Einfluss aus, dass sie ihre Überzeugung von der Unauflösbarkeit der Ehe durchgesetzt hatte. Auftretende Schwierigkeiten zwischen den Partnern waren zum bevorzugten Gegenstand von geistlichen Beratungen geworden, die sich die Pfaffen teuer bezahlen ließen. Nur in Ausnahmesituationen, bei der nachträglichen Feststellung von einer zu nahen Verwandtschaft oder wenn einer der Partner in ein Kloster eintreten wollte, gab die Kirche ihren Segen zur Trennung. Natürlich war es auch möglich, dass hohe weltliche Fürsten Druck ausübten, damit die Kirche für eine Scheidung ihre Zustimmung erteilte...
Plötzlich dämmerte Judith, wo die tatsächlichen Schwierigkeiten lagen. Die Ehe mit August spielte nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend war vielmehr Hartmanns Situation, die ihm keinerlei Spielräume gewährte. Er musste erkannt haben, dass sie sich in Freiburg nicht näherkommen könnten, ohne schlimme Sanktionen zu befürchten. Wenn sie fliehen würden, um irgendwo neu anzufangen, könnte kein Edelmann ihm Obdach gewähren, ohne den Kaiser zu erzürnen. Hartmann müsste also einen anderen Namen benutzen und einer anderen Tätigkeit nachgehen. Dann könnte er jedoch seine Kunst nicht ausüben, um sich so weiterzuempfehlen und eine bevorzugte Behandlung zu genießen. Mit einem anderen Broterwerb müsste er ganz von vorne anfangen und sich einen Platz in der Fremde erkämpfen. Er wäre nicht besser oder schlechter gestellt als jeder andere Hörige.
Hartmann wollte sich diesen Unwägbarkeiten nicht aussetzen. Sein Weg war bestimmt nicht weniger riskant, aber
hatte den entscheidenden Vorteil, dass er seine bisherigen Verdienste nutzen konnte. Wenn es ihm gelänge, seinen Ruf auf dem Kreuzzug wiederherzustellen, könnte er als berühmter und umworbener Künstler Einfluss ausüben. Den Kaiser kostete es nur ein Fingerschnippen, um eine Scheidung durchzusetzen, wenn ihm der Sinn danach stand. Sogar ein ehebrecherisches Verhältnis zu einer Bürgersfrau stellte in diesen Kreisen kein Verbrechen dar. Die Edelleute richteten nach ihrem eigenen Gesetz, weil sie es außerhalb der Städte selber verkörperten. Sie regierten wie die Götter und gestatteten auch den Gefolgsleuten mehrere Kebsweiber. Ob diese verheiratet waren oder nicht, spielte keine Rolle, weil die gehörnten Ehemänner es nicht wagten, sich gegen die hohen Herrn aufzulehnen.
Allmählich begriff sie, dass Hartmann keinen konkreten Plan verfolgte, den er Schritt für Schritt umsetzen konnte - dafür hing zu viel vom Zufall ab -, aber er wollte die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen. Wenn er sich erst neu etabliert hätte, würde er wissen, wie er am besten vorgehen müsste, um ihre gemeinsame Zukunft zu ebnen. Seine Entscheidung, ins Heilige Land zu ziehen, beruhte also auf der Einsicht, dass er ihr in der jetzigen Situation keinen Schutz bieten konnte, und auf der Hoffnung, dass er kraft seiner Fähigkeiten alles zum Guten wenden würde.
Zum ersten Mal, seitdem sie davongelaufen war, blieb Judith stehen und nahm ihre Umgebung in Augenschein. An einer gespaltenen Rotbuche erkannte sie, dass sie sich auf dem Waldweg nach Aue befand. Ihr Geist hatte so fieberhaft gearbeitet, dass sie überhaupt nicht gemerkt hatte, wie viel Zeit verstrichen war. Die Sonne ging schon auf
und die ersten Sonnenstrahlen schienen durch das Geäst. In den Bäumen ringsum erwachten die Vögel und begrüßten den neuen Tag.
Plötzlich kam Judith ein fürchterlicher Gedanke. Hatte Hartmann erwähnt, wann er mit dem Trupp aufbrechen würde? Sie musste ihn unbedingt noch einmal sehen, bevor er Freiburg verließ. Sie musste ihm unbedingt sagen, wie sehr sie ihn liebte. Unter keinen Umständen durfte er sie in Erinnerung behalten, wie sie vor seinen Berührungen die Flucht ergriff! Wenn er ihre Reaktion nun auf sich bezog?
Sie rannte sofort los. Der Morgen war schon weit fortgeschritten, als sie das Burgtor erreichte. Völlig erschöpft stützte sie die Hände auf den Knien ab und sagte keuchend: »Ich muss zu Hartmann. Bitte, wo kann ich ihn finden?«
Die Wache hielt einen Speer in der Hand. Unter dem flachen Helm verzog sich sein fleischiges Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen. »Hier
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