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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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und Knochenschmuck angelegt hatten,
bevor sie in die Schlacht gezogen waren. Es geschah nicht allein, um sich zu tarnen oder den Gegner zu ängstigen, nein, es geschah vor allem, um sich in jemand anderen zu verwandeln. Heute Nacht war sie nicht länger die junge, arglose Frau, die so viele Jahre ihren Eltern und Verwandten Gehorsam geleistet und Freude bereitet hatte. Heute Nacht war sie eine Kriegerin.
    Der Schlamm trocknete in kurzer Zeit und brach bei der kleinsten Bewegung brockenweise ab. Zurück blieb eine graubraune Färbung der Haut. Judith griff nach der scharfen Sichel, mit der sie am Tag ihrer Flucht Getreide geschnitten und die sie mit sich geführt hatte, und tauchte zwischen den Baumstämmen ins Dickicht unter. Sie wollte ihren Ehemann im Schlaf überraschen und war wild entschlossen, alles zu tun, was notwendig wäre, um wieder ein angstfreies Dasein führen zu können.
     
    Der Mond war längst aufgegangen und zahllose Sterne funkelten am Firmament. Der Gesang eines einzelnen, noch unbeweibten Nachtigallmännchens klang durch den Wald und vermischte sich mit dem Rauschen der Blätter. Der Volksmund sagte, dass die wohltönenden Klangfolgen dem Todgeweihten ein barmherziges Ende und dem Kranken eine rasche Genesung ankündigten. Ob der Gesang ihr Vorhaben beeinflussen würde, konnte Judith nicht voraussehen.
    Seit geraumer Zeit drückte sie sich in eine Mulde und beobachtete den Hof ihres Ehemanns. Die vier Häuser - eines zum Wohnen, eines für die Vorräte, eines für das Vieh und eines für das Gesinde - lagen vollkommen ruhig da. Nichts deutete daraufhin hin, dass August und seine Spießgesellen
ihr auflauerten. Mehrere Tage geduldig abzuwarten, passte auch nicht zu ihrem Wesen. Was diese Männer begehrten, mussten sie sofort besitzen. Bekamen sie es nicht, verloren sie das Interesse und wandten sich etwas anderem zu.
    Judith vermutete, dass die Spießgesellen längst nach Freiburg zurückgeritten waren und August wahrscheinlich auf dem Hof geblieben war. Vielleicht hatte er eine Suchmannschaft zusammengestellt und nach ihr ausgeschickt. Vielleicht hatte er auch nur eine Geschichte für eventuelle Nachfragen erfunden, die ihr Verschwinden erklärte, aber keinerlei Aufsehen erregte.
    Natürlich war Judith klar, dass bei ihrem Plan eine ganze Menge schiefgehen konnte, aber der Einsatz rechtfertigte das Risiko. Sollte sie scheitern, könnte es kaum schlimmer werden. Sollte sie hingegen Erfolg haben, würde sich ihr Leben in jeder Hinsicht bessern.
    Lautlos stemmte sie sich hoch und lief über das Weideland. Die Tarnfarbe machte sie beinahe unsichtbar. Die harten Erdkrusten kitzelten unter ihren Fußsohlen, und ein leichter Windzug strich über ihre nackten Brüste. An den dicken Weidenruten fanden Judiths Zehen genügend Halt, um den Flechtzaun zu überwinden. Auf der anderen Seite huschte sie in den Schatten des Hauses und drückte sich an der Lehmwand entlang, bis sie die Fensterluke erreichte. Ein letztes Mal sammelte sie ihre Kräfte, dann kletterte sie durch die Öffnung und glitt in den Wohnraum. Für einen Moment fürchtete sie, dass aus der Dunkelheit Hände nach ihr greifen könnten, aber je länger sie an Ort und Stelle ausharrte, um ihre Augen an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, desto sicherer wurde sie, dass
ihr keine Gefahr drohte. Sie konnte nicht sagen, woher sie die Gewissheit nahm, aber sie spürte ganz deutlich, dass etwas anders war. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett.
    Es wunderte sie nicht, dass die Schlafstatt leer war. Nicht einmal eine Decke lag auf der Matratze. Hatte August die Spießgesellen nach Freiburg begleitet? Judith ging zum Tisch. Die Näpfe, Krüge und Becher fehlten. Auch der Kessel stand nicht auf dem Ofen. Jetzt eilte sie zur Kleiderkiste und klappte sie auf. Sie war ebenfalls leer. Normalerweise verstaute August seine Lederkappe, die Fellschuhe und den Winterpelz darin, aber die warmen Wintersachen fehlten. Was wollte er mitten im Sommer mit ihnen anfangen? Eine Weile stand Judith in dem dunklen Haus und dachte nach, ohne eine Erklärung zu finden. Dann öffnete sie die Tür, setzte sich auf die Schwelle und spähte in die Dunkelheit. Wo steckte August nur?

12.
    Hartmann schlug die Augen auf und sah sich um. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass jemand in der schattigen Fensternische stand und ihn ansah. »Johanna, bist du das?«
    »Endlich!«, sagte die Hofdame und setzte sich auf den Rand seines Lagers. Sie tauchte ein Stück Linnen in die

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