Der Moderne Knigge
vollziehe, wenn man allein in die Wohnung zurückkehrt, zwei Akte der Wohlthätigkeit, indem man einem armen Mann eine verhältnismäßig größere Summe schenkt und die Fenster der Stube, in welcher der Logierbesuch sich ereignete, öffnen läßt.
Bis zum Eintreffen der Postkarte mit der Nachricht von der glücklichen Heimkehr des Freundes schwebe man in einiger Angst, aber nicht wegen seiner.
Mehr noch als im Winter wird im Sommer am hellen Tag ins Theater gegangen. An die Stelle der sogenannten Nachmittagsvorstellungen im Winter tritt im Sommer das
Sommertheater,
in welchem das Publikum im gegebenen Moment die Darsteller beneidet, welche bei eintretendem Regen nicht obdachlos sind. Bescheidene Zuschauer finden in diesem Neid mancherlei Anregung zur Kurzweil, welche die Aufführung selbst nicht immer gewährt.
Das Repertoire der Sommertheater (ich sage für Repertoire nicht das jetzt übliche und häufiger gedruckte als gesprochene »Spielplan«, weil das Spiel auf Sommerbühnen meist planlos ist) setzt sich aus älteren Stücken zusammen, so daß häufig genug einzig und allein der Regenschirm gespannt ist. Indem man also von bewährten Stücken in das Sommertheater gelockt wird und dieser Lockung folgt, ist man nicht den Enttäuschungen der Erstaufführungen ausgesetzt, welche den Jammer der Wintersaison bilden. Man gehe also stets mit jener Seelenruhe in die Sommertheater, welche die herrlichen Leistungen der Klassikerverächter am allerwenigsten im Winter finden lassen.
Hat man zufällig einen Geist, welcher darin seine volle Befriedigung findet, daß auf der Bühne Podex, Quetschkartoffel oder Klumpatsch gesagt wird, so bleibe man dem Sommertheater fern, da in den unmodernen Stücken, namentlich in den alten blödsinnigen Possen die erwähnten Worte nicht gesprochen werden.
In dem Garten des Sommertheaters trifft man regelmäßig bedeutende und berühmte Choristen ohne Engagement, auf die man sofort zuzustürmen und die man dann anzupumpen hat. Dies ist, wenn nicht das einzige, so doch ein gutes Mittel, nicht von ihnen angepumpt zu werden.
Schauspieler und Schauspielerinnen der Winterbühnen halten sich gleichfalls gern im Garten des Sommertheaters auf, wenn sie nichts schlechteres zu thun wissen. Wenn diese erzählen, wie sie im Winter wieder zurückgesetzt und durch Intriguen von ihrer Höhe herabgestürzt wurden, so sage man ihnen, man wisse dies schon, worauf sie ihre Erzählung von vorne beginnen.
Hat man Grund, sich vom Bier dadurch zu entwöhnen, daß man die Quantität, welche man zu sich nimmt, allmählich verkleinert, so trinke man im Garten des Sommertheaters einen Seidel nach dem anderen, wodurch man mühelos an das aufs innigste zu wünschende Ziel gelangt. Man wird bald die beruhigende Bemerkung machen, daß in den Seideln nur Schaumsäulen auf zierlichen Biersockeln stehen.
Hat man eine, wenn auch nur vorübergehende Braut und will man sie vor seinen Freunden nicht verheimlichen, so besuche man die Sommertheater mit diesem jungen Mädchen.
Macht man im Garten des Sommertheaters die Bekanntschaft einer Witwe, so hüte man sich vor dem Gatten dieser Dame, welcher sich jedenfalls vorstellen wird, wenn man auf dem Heimwege mit ihr eine einsame Gegend passiert.
Da die Zwischenakte in Sommertheatern im Interesse der Büffetpacht oder der Direktion, wenn diese zugleich die Wirtin ist, bedeutend länger als in Wintertheatern sind, so gebe man sich nicht die Mühe, sich zu merken, was man bis zur Pause gesehen hat, da ich dies für unmöglich halte. Einige Zwischenakte sind freilich noch etwas länger als gewöhnlich.
Ist man z. B. neugierig, was aus dem armen Mädchen wird, welches in einem Akt gegen den Landesfeind zog, indem sie erklärte, daß sie gehe und nimmer kehre sie wieder, und findet man sie im nächsten Akt im Dienst bei einem Grafen Rochester, so wird nicht die Jungfrau von Orleans, sondern die Waise von Lowood gegeben. Bemerkt man dann nach dem letzten Zwischenakt, daß die arme Heldin mitten in der Nacht ihren Gatten und ihre Kinder verläßt, so wird weder das eine, noch das andere Stück gegeben, sondern Nora.
Wird man von einer Dame ersucht, sie in ein Sommertheater zu führen, so schlage man ihr des lieben Friedens willen die Bitte nicht ab, ziehe sich aber mit einem Scherz aus der Verlegenheit, indem man sagt: Der Garten ist abends glänzend illuminiert, und man braucht seine Flamme nicht mitzubringen. Man sei überhaupt in Kleinigkeiten nobel.
Wer kein Freund
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