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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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bekommen, nicht nur das, was in einer großen Familie für ihn abfiel. Mehrere Tage habe ich die ganze Sache geplant. Doch am Ende war es fast zu schön, um wahr zu sein. Sie haben es mir leichtgemacht. Haben ihre Kinder jeden Abend allein im Hotelzimmer zurückgelassen, während sie unten im Restaurant mit ihren Freunden aßen und tranken und sich amüsierten. Und dann dieses törichte Mädchen, das nach ihnen sehen sollte, aber die ganze Zeit nur mit einem Jungen aus der Küche flirtete. Hat sich jeden Abend mit ihm bei den Mülltonnen getroffen. Pubertäres Gefummel. Ekelhaft. Eigentlich wäre es ein Kinderspiel gewesen, Richard zu entführen.»
    «War es aber nicht?»
    «Es war ein Desaster. Als ich ihn aus dem Gitterbettchen hob, schlief er noch, und er hob die kleine Hand, um sie mir um den Hals zu legen. Dabei hat er mir mit der scharfen Ecke eines Fingernagels die Wange aufgekratzt, und es fing zu bluten an. So ein dummes, kleines Missgeschick. Aber ich konnte die Blutung nicht stillen, verstehen Sie? Wenn ich mal blute, blute ich. Eigentlich wollte ich seinen kuscheligen Panda als Trostpflaster für ihn mitnehmen, doch am Ende musste ich ihn liegen lassen. Ich musste ja Richard tragen und gleichzeitig versuchen, das Blut zu stoppen. Ich war kurz davor, alles abzublasen. Ich stand schon draußen im Flur und kämpfte mit mir, ob ich ihn zurückbringen sollte, doch dann hörte ich, wie jemand mit dem Fahrstuhl heraufkam. Also bin ich losgerannt. Die Würfel waren gefallen. Es gab kein Zurück.»
    Sie griff erneut zu ihrer Tasse, verzog jedoch, als sie merkte, dass der Tee inzwischen kalt war, das Gesicht und stellte die Tasse wieder ab. «Ich brauchte nur zwei Stunden, um ihn hierherzubringen. Aber wir hatten eine Grenze überquert, und damals waren die Medien noch nicht so allgegenwärtig wie heute. In der französischen Presse fand die Entführung kaum Beachtung. Ich wusste zwar, dass die Polizei in Cadaqués und der weiteren Umgebung fahnden würde. Sie würden die Suche ausweiten, auf ganz Spanien und zweifellos auch auf England. Aber zwei Autostunden die Küste rauf nach Frankreich? Ich war mir ziemlich sicher, dass niemand je auf die Idee kommen würde, da nach uns zu suchen.»
    Ein seltsames Lächeln umzuckte ihren Mund, voller Bitterkeit und Ironie. «Und so stand nichts mehr im Wege, um mir den Traum von einem neuen Leben mit Kind zu erfüllen. Nur dass sich dieser Traum in einen Albtraum verwandelte, der außerdem nur sechzehn Jahre lang währte. Sechzehn lange, schwierige Jahre.»
    «Was ging schief?»
    «Oh, eigentlich nichts. Es lag an Richard. Seinem Wesen, seiner Natur. Wie er, vermute ich, so oder so geworden wäre. Ein schwieriger, aufsässiger, launischer, einsamer Junge. Vielleicht hat ihm eine Vaterfigur, ein Vorbild wie Reginald gefehlt. Mich hat er jedenfalls abgelehnt. Er zuckte vor jeder Berührung zurück, er hasste es, wenn ich ihn küsste, wollte nicht an die Hand genommen werden. Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie deprimierend das für mich als Mutter war. Wie ich am Ende eine solche Abneigung gegen ihn gehegt habe, dass es schon fast in Hass umschlug. Als er wegging, brach es mir zwar das Herz, aber letztlich war ich auch erleichtert.»
    Enzo entging nicht, dass sie sich wie selbstverständlich als Richards Mutter bezeichnete, als hätte sie fast von Anfang an selbst daran geglaubt. Eine außergewöhnliche Gabe zum Selbstbetrug. Er bezweifelte, dass sie je die Berichterstattung in der britischen Presse verfolgt hatte. Selbst damals hätte sie mühelos an englische Zeitungen kommen können. Doch sie hätte nicht gerne gelesen, wie sie eine Familie ins Unglück gestürzt und das Leben einer Mutter zugrunde gerichtet hatte. Das hätte es deutlich erschwert, den Selbstbetrug aufrechtzuerhalten. «Wieso ist er weggegangen?»
    «Als ich eines Tages nach Hause kam, war er völlig außer sich. Ich hatte ihn zu Hause gelassen, weil er für sein Abitur arbeiten sollte. Er war kein sehr begabter Schüler, aber er hätte seine Sache besser machen können. Es fehlte ihm an Konzentration, an Motivation. Vermutlich ist er an dem Tag deshalb von seinen Büchern aufgestanden und hat stattdessen auf dem Dachboden herumgestöbert. So ist er dann auf meine alten Papiere gestoßen. Die Fotos, die ich in Cadaqués gemacht hatte, die Geburts- und Heiratsurkunden. Reginalds Totenschein.» Sie schwieg einen Moment. «Den von meinem Richard – aus seiner Warte sein eigener Totenschein.»
    Enzo

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